„Es tut mir leid, dass ich Vicky geküsst habe."
Wir liegen uns gegenüber in meinem Bett, Alice trägt eins meiner Shirts, das mir zu groß ist. Den ganzen Weg nach Hause hat sie mir davon erzählt, wie schlecht sie mit Kristen auskommt. Ich habe Kristen eine Nachricht geschrieben, in der ich erklärt habe, dass es Alice nicht gut geht und ich sie deshalb mit zu mir genommen hat. Sie war davon sichtlich unbeeindruckt und wirkte eher so, als wäre das ein willkommener Zufall. Beim Zähneputzen haben wir uns gegenseitig die Gesichter abgewaschen und haben so viel gekichert, dass ich überrascht bin, dass meine Schwester und meine Mutter immer noch schlafen.
Jetzt liegt Alice so vor mir, wie ich sie am liebsten mag. Ohne Make-Up, ohne die Fassade, die sie sonst so oft trägt. Sie hat die ganze Zeit über ein kleines Lächeln auf den Lippen und berührt mich bei jeder Gelegenheit. Auch jetzt spielt sie an einer meiner Haarsträhnen herum, während sie spricht. „Schon okay", erwidere ich, doch sie schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, warum ich es gemacht habe", meint sie nachdenklich und zieht ihre Hand dann zurück. Sie schaut kurz weg, um dann zu fragen: „Habt ihr euch bei eurem Date geküsst?"
Ich denke an das bescheidene Date zurück und muss daran denken, dass ich schon dort lieber Zeit mit Alice verbracht hätte. „Wenn ja, würde es dich stören?", versuche ich, sie aus ihrer Reserve zu locken. Sie drückt ihre Lippen aufeinander und ich sehe, dass es ihr schwerfällt, etwas zu sagen. Vorsichtig führe ich meine Hand an ihre Wange und schenke ihr ein kleines Lächeln. Es scheint zu reichen, um sie zu ermuntern, da sie sagt: „Ja." Ich kann mein Grinsen nicht verstecken und bekomme dafür direkt einen Schlag gegen meine Schulter. „Du bist so scheiße", murmelt sie, doch ich grinse nur weiter. Noch immer kann ich nicht glauben, wie selbstsicher ich in ihrer Nähe bin.
„Und trotzdem willst du mich küssen", sage ich, um sie aufzuziehen, doch sie lächelt ausnahmsweise nicht über meinen Scherz. Sie wirkt für einen Moment seltsam unsicher, als sie fragt: „Wärst du jetzt lieber bei ihr?" Ihre Augen sehen aus wie die eines Rehs und wie schon so oft, bringt es mein Herz zum Brennen. Ich habe keine Ahnung, was dieses Mädchen an sich hat, doch es bringt mich um meinen Verstand. Ich seufze und gebe dann etwas zu, dass mir auf dem Weg von Vickys Haus zur Bahnhaltestelle klar geworden ist.
„Als ihr euch geküsst habt, war ich eifersüchtig."
Sie nickt langsam und ich sehe Enttäuschung in ihren Augen. Bevor sie sich wegdrehen kann, lege ich meine Hand in ihren Nacken und flüstere: „Aber ich war nicht auf dich eifersüchtig, Ally." Verwirrt sieht sie mich an und ihre Augen werden größer, als sie kapiert, was ich sage.
„Ich konnte nicht ertragen, dass sie dich küsst", hauche ich und langsam entsteht ein warmes Lächeln auf Alice Lippen. Sanft streift sie meine Lippen mit ihren und ich erwidere es sofort. Mit der Hand fährt sie in meine offenen Haare und ich ziehe sie automatisch an ihrer Hüfte etwas mehr zu mir. Es fühlt sich unglaublich gut an, sie so dicht an mir zu spüren. Ihr Duft umhüllt mich und er ist mir so vertraut, dass ich Gänsehaut bekomme. Als sie sich wieder von mir löst, grinst sie und ihre Wangen sind wieder rot verfärbt. „Ich habe dich vermisst", gibt sie zu und ich muss automatisch lächeln. Um zu überspielen, wie viel mir diese Worte bedeuten, scherze ich: „Das möchte ich bitte schriftlich haben." Sofort schmunzelt sie und schnipst mir gegen mein Ohr. „Du nervst mich unglaublich", sagt sie und ich grinse breit.
Dann rückt sie näher zu mir und legt ihren Kopf in meine Halsbeuge. Instinktiv schlinge ich meine Arme um ihren Körper und genieße ihre angenehme Körperwärme. Noch immer kann ich nicht fassen, wohin diese Nacht geführt hat. Ich schmiege mein Kinn an ihren Kopf und flüstere: „Du hast mir auch gefehlt." Sofort kuschelt Alice sich noch etwas mehr an mich und erhöht meinen Herzschlag erneut. Noch vor zwei Wochen hätte ich dieses Mädchen umbringen können. Jetzt jedoch würde ich sie am liebsten noch enger an mich drücken und nicht mehr loslassen. Jap, ich habe mich eindeutig in meine stinkreiche, arrogante und fantastische Schwedin verknallt.
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Müde ziehe ich meine Decke mehr über mich, als ich wie immer Finjas Trampeln in meinem Zimmer höre. „Noch fünf Minuten, Flips", murmele ich, doch keine zwei Sekunden später fängt sie an zu quietschen. „Ally!" Sofort fällt mir wieder ein, was gestern Abend passiert ist und ich bin direkt hellwach. Alice regt sich neben mir und lächelt, als sie meine Schwester vorm Bett stehen sieht. Sie richtet sich leicht auf und öffnet ihre Arme, woraufhin Finja sofort aufs Bett springt. Müde lehnt Alice sich gegen das Ende des Bettes und streicht Finja über den Kopf. Ihr Blick trifft meinen und sie lächelt leicht. Erleichterung macht sich in mir breit und ich erwidere das Lächeln. Ein Teil von mir hatte Angst, dass sie heute Morgen alles bereuen könnte.
Alice wendet sich an meine Schwester und sagt dann ein Wort, dass man mit viel Mühe als „Frühstück" einordnen könnte. Finja nickt sofort und sprintet aus dem Zimmer. Ich schaue ihr schmunzelnd hinterher und murmele dann: „Sie würde dir jeden Wunsch erfüllen." Sie grinst direkt, richtet sich mehr auf und kommt mir etwas näher. Langsam mustert sie mein Gesicht und beißt sich auf ihre Lippe. „Genau wie ihre Schwester", haucht sie, zwinkert mir zu und steht dann auf. Ich lache kopfschüttelnd darüber, wie sie mit mir spielt. Sie weiß genau, dass ich gerade mal wieder Gänsehaut bekommen habe. Schnell laufe ich ihr nach und versuche sie im Flur in den Schwitzkasten zu nehmen. Wie immer ist sie jedoch stärker als ich und kann sich aus meiner Klammerung befreien.
„Wen haben wir denn da?", ertönt die Stimme meiner Mutter aus der Küche. Sie mustert uns lächelnd und Alice grinst sofort, als meine Mutter sie in eine kurze Umarmung zieht. „Ich hätte besser aufgetischt, wenn ich das gewusst hätte", sagt sie und tadelt mich mit ihrem Blick. Ich hebe nur abwehrend die Arme, da ich selbst auch nicht damit gerechnet habe. „Lass mich raten, du hättest Köttbullar gemacht", scherzt Alice und meine Mutter grinst darüber, dass sie ihren Humor imitiert. Wir setzen uns an den Tisch und frühstücken genauso wie vor anderthalb Wochen. Das Frühstücksfernsehen läuft und meine Schwester überredet uns zu einer Runde Halli Galli. Ich erwische mich selbst dabei, wie ich mir wünsche, dieser Morgen würde nie enden.
Doch er tut es und ich muss Alice zur Bahn bringen. Auf dem Weg reden wir über belangloses Zeug, doch an der Haltestelle wird sie ruhiger. „Alles gut?", frage ich sie, doch sie geht meinem Blick aus dem Weg. Ich spüre, dass sie wieder anfängt, sich vor mir zu verschließen, doch ich will sie so nicht gehen lassen. Vorsichtig greife ich nach ihrer Hand und ziehe sie leicht zu mir, damit sie mich ansieht. „Hey, es ändert sich nichts, okay?", sage ich und streiche sanft mit meinem Daumen über ihren Handrücken.
Ich bin mir sehr sicher, dass niemand über Alice Sexualität Bescheid weiß. Wer weiß, wie sicher sie sich selbst darüber ist. Wenn ich an mein Outing zurückdenke, bin ich noch immer erleichtert, dass ich Natasha hatte. Es fiel mir nicht leicht, aber ich wusste, dass ich nie allein sein würde. Wenn ich Alice mit ihren Freundinnen erlebe, habe ich das Gefühl, sie vertraut niemandem von ihnen. Sie schaut in meine Augen und wirkt für einen Moment wieder so verletzlich wie gestern Abend. „Wirst du es jemandem sagen?", fragt sie leise, doch ich schüttele direkt den Kopf. Ich weiß, dass ich sie mit einer anderen Antwort vermutlich sofort verschrecken würde und das will ich nicht. „Du kannst mir vertrauen", sage ich und lege meine Hand auf ihre Wange. Sie lehnt ihre Stirn für einen Moment gegen meine und schließt ihre Augen.
Dann löst sie sich wieder von mir und ihr Grinsen kehrt auf ihre Lippen zurück. Ihre Augen flackern, als sie sagt: „Pass mal auf, dass du nicht zu nett zu mir bist." Ich schmunzele und verdrehe die Augen über ihre Aussage. Als die Bahn kommt, drückt sie mir einen Kuss auf die Wange und meint: „Nicht, dass ich noch denke, du könntest mich leiden."
Ich zeige ihr meinen Mittelfinger und als sie in die Bahn einsteigt, rufe ich ihr hinterher: „Geh mal lieber Kristen auf die Nerven."
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Only the rain knows
RomanceKyra ist seit sie denken kann verknallt in ein Mädchen, das nicht mal weiß, dass sie existiert. Sie ist zu schüchtern, um den nächsten Schritt zu wagen, als aus dem Nichts jemand in ihr Leben tritt, der alles verändern wird. Es ist sehr viel leicht...