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Der Ort, den Alice mir geschickt hat, ist nicht weit von Kristens Haus entfernt, was für mich ungefähr zehn Minuten mit der Bahn bedeutet.

Kristen wohnt nicht in Nats Nachbarschaft, sondern am anderen Ende der Stadt. Ihre Eltern haben auch viel Geld, aber sie sind konservativer als meine und Nats Eltern. Kristen war auch eine der wenigen, die am Anfang etwas Probleme mit meiner Sexualität hatten. Tatsächlich führt mich mein Google Maps durch eine kleine Straße zu einem Spielplatz am Rand des Wohngebietes. Ich sehe Alice von Weitem auf einer Schaukel sitzen und muss schmunzeln.

Sie trägt Sportklamotten und hat Kristen sicherlich gesagt, sie würde joggen gehen. „Ist Kidnapping in Schweden noch in?", necke ich sie mit ihrem eigenen Scherz, woraufhin sie die Augen verdreht. Sie steht auf und kommt etwas auf mich zu. „Wie lange kann man eigentlich brauchen, um hier her zu kommen?", fragt sie, doch ich bin zu sehr von ihrem Outfit abgelenkt. Ausnahmsweise trägt sie ein bauchfreies Top und die Sportleggings betonen ihre hübschen Beine. Ich grinse automatisch und beiße mir leicht auf meine Unterlippe.

„Was?", fragt sie, während ein Lächeln ihre Lippen umspielt. Langsam gehe ich noch einen Schritt auf sie zu und lege meine Hand an ihre nackte Hüfte. „Jetzt tu nicht so, als würde dich sonst nie jemand so ansehen", meine ich und schaue auf in ihre Augen. Sie trägt ihre Haare in einem Pferdeschwanz und ist trotz ihrer Joggingausrede geschminkt. „Vielleicht ist es mir sonst egal", murmelt sie und stupst mit ihrer Nase gegen meine. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen steigt und eindeutig sieht sie das. Sie grinst und greift mit ihren Fingern sanft an den Anhänger meiner Kette. „Ich mache dich verlegen", sagt sie stolz und natürlich werde ich noch etwas roter dadurch. Ich schiebe sie von mir weg und erwidere: „Du bist so ein Arsch."

Als ich zu der Schaukel laufe, kommt sie mir hinterher und stellt sich vor mich, sodass ich nicht schaukeln kann. Sie hält sich an den Ketten neben meinem Kopf fest und sagt: „Das wusstest du aber vorher." Ich schaue zu ihr auf und erkenne wieder den ehrlichen, warmen Ausdruck in ihren Augen. „Darf ich dich was fragen?" Sie mustert mich für einen Moment und nickt dann langsam.

„Bin ich wirklich das erste Mädchen, das du geküsst hast?", frage ich und sie beißt ihre Zähne zusammen. Für einen Moment schaut sie herab auf unsere Füße und schüttelt dann den Kopf. Sie wirkt so als würde sie an etwas denken, das sie nicht sehr glücklich macht. Sanft lege ich meine Hand auf ihre an der Kette und hauche: „Du musst nicht drüber reden." Sie schaut mir wieder in die Augen und scheint einen Moment lang nachzudenken. Dann seufzt sie und lässt sich auf der Schaukel neben mir nieder. „Okay, ich erzähle dir was, aber wenn du es jemals jemandem sagst, mach ich dich fertig." Ich schaue zu ihr und scherze: „Mehr als bisher?" Sie verdreht die Augen und ich nicke etwas ernster: „Versprochen."

Sie stößt sich mit ihren Beinen ab, sodass sie anfängt sanft hin und her zu schaukeln. Dann räuspert sie sich und beginnt mir eine Geschichte zu erzählen, die mir die Tränen in die Augen treibt. Sie handelt von der fünfzehnjährigen Alice, die sich in ihre Nachbarin verliebte. Von zwei Wochen im Sommer vor drei Jahren, in denen sie wirklich glücklich war. Jedoch auch von einem Abend, an dem ihr Vater sie mit dem Nachbarsmädchen gesehen hat. Vom letzten Mal als sie das Mädchen gesehen hat, bevor es aus dem Nichts wieder wegzog.

„Er hat mir so fest ins Gesicht geschlagen, dass ich mit meinem Kopf auf einen Stein gefallen bin", flüstert Alice und ich höre, dass ihre Stimme dabei zittert. Ich schlucke, um nicht zu weinen zu beginnen. Das ist die Geschichte hinter ihrer Narbe und hinter ihrer Angst. Mein Blick fällt auf das Armband an meinem Handgelenk und ich seufze.

„Hattest du Angst, ich könnte es ahnen?", frage ich sie, doch sie schüttelt den Kopf.

Tränen glitzern in ihren Augen, als sie sagt: „Ich hatte Angst, dich küssen zu wollen."

Verblüfft von ihrer Ehrlichkeit breitet sich eine Gänsehaut über meine Arme aus. Langsam schaukele ich vor und zurück und frage mich, wie ich so falsch über sie urteilen konnte. „Willst du, dass ich dich in Ruhe lasse?", frage ich vorsichtig, weil es nicht meine Absicht ist, sie zu quälen. Sofort schaut sie auf und schüttelt den Kopf. Langsam steht sie wieder auf und stellt sich vor mich. Sie legt ihren Kopf schief und flüstert dann: „Es würde nichts daran ändern, dass ich dich mag." Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen und ich erwidere: „Ich mag dich auch." Ihr Grinsen kehrt zurück und sie streicht sanft mit ihrer Hand über meine Wange.

„Ich hätte nicht gedacht, dass dein Mund diese Worte überhaupt formen kann", neckt sie mich und bekommt dafür einen leichten Tritt gegens Bein von mir. Als sie mich schubst, verliere ich beinahe das Gleichgewicht, kann mich jedoch geradeso an der Schaukel festhalten. Alice nutzt meine unsichere Haltung gekonnt aus und zieht mich von der Schaukel auf den Boden, sodass ich mit meinem Rücken auf den Kieseln lande. Lachend ziehe ich sie mit runter und genieße das Gewicht ihres Körpers auf meinem. Sie sieht grinsend auf mich herab und lässt zu, dass ich sie an ihrem Top zu mir ziehe. Sanft küsst sie mich und stützt ihre Arme neben meinem Kopf auf die Steine. Ich erwidere die Bewegung ihrer Lippen und streiche über die warme Haut ihrer Hüfte.

Als sie mir leicht in die Lippe beißt, kralle ich mich mit meinen Fingernägeln in ihre Haut. Ihre Zunge berührt meine und lässt mich all meine Sorgen vergessen. Der Duft nach ihrem Parfum umhüllt mich und gibt mir Sicherheit. Ich spüre ihre Hand unter meinem Shirt und zucke leicht zusammen, als sie meinen BH berührt. Sofort erstarrt sie in der Bewegung und löst sich schweratmend von mir. Ihre Wangen sind gerötet und in ihren Augen erkenne ich, dass sie diesen Kuss mindestens genauso genossen hat wie ich.

„Ich muss zurück, sonst merkt Kristen was", sagt sie, doch ihre Stimmfarbe bringt mich zum Grinsen. Für einen Moment wirkt sie verunsichert, was mich dazu bringt, sie zu ärgern: „Ich bin wohl nicht die Einzige, die hier verlegen ist." Sie schmunzelt kopfschüttelnd, steht von mir auf und hilft mir dann hoch. Als sie Richtung Ausgang des Spielplatzes geht, laufe ich ihr nach und flöte: „Du weißt plötzlich ja sogar ihren Namen." Ertappt grinst Alice leicht und tut so, als wäre sie extrem genervt von mir. Trotzdem greift sie nach meiner Hand und verschränkt ihre Finger mit meinen.

„Ich hoffe deine Bahn fällt aus", murmelt sie, worauf ich nur erwidere: „Ich hoffe Kristen zwingt dich, Arte zu schauen." Alice schnaubt leicht, schaut dann auf ihre Armbanduhr und bleibt direkt stehen. „Es ist gleich Sandmännchen-Zeit", sagt sie alarmiert und ich muss über ihren Gesichtsausdruck lachen. Ihr ist vermutlich nicht klar, wie süß diese Aussage ist. „Finja ist total egal, ob ich dabei neben ihr sitze", meine ich, doch Alice schüttelt den Kopf. „Los geh", sagt sie und schubst mich ein Stück. Ich muss lachen und will langsamer gehen, doch sie meint es wohl wirklich ernst. Also hebe ich abwehrend die Hände und gehe rückwärts von ihr weg: „Ist ja gut." Sie schaut mir hinterher und ruft dann: „Beeil dich!" Ich schüttele grinsend den Kopf, bis sie hinzufügt: „Sonst gibt es morgen keinen Kuss." Grinsend zeige ich ihr meinen Mittelfinger, beschleunige gleichzeitig jedoch auch meine Schritte.

Bevor ich um die Straßenecke biege, schaue ich nochmal zu ihr und lege zwei Finger an meinen Kopf, als würde ich für sie salutieren. Sie winkt mir grinsend zu und ich weiß schon, woran ich heute Abend vorm Einschlafen denken werde.


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt