51.

980 62 3
                                    

Die Schule verläuft im Grunde so weiter, wie sie es vor dem Austausch getan hat, der einzige Unterschied ist, wie ich mich dabei fühle.

Es fällt mir leichter, mich auch wohlzufühlen, wenn Nat mal mit jemand anderem beschäftigt ist. Ich sitze hin und wieder in der Pause bei Toby und den Jungs vom Fußballteam oder bei meinem eigenen Team. Späße bringen mich nicht mehr so leicht aus dem Konzept, genauso wenig wie Victoria und ihre Freundinnen. Ohne die Schwedinnen sind sie nur halb so respekteinflößend für mich und auch nur halb so wichtig. Vicky fragt mich noch mehrmals nach einem Date, doch ich blocke es ab. Es fällt ihr eindeutig unfassbar schwer zu verstehen, dass ich tatsächlich nichts von ihr will. Im Grunde kann ich das sogar verstehen, weil sie normalerweise immer bekommt, was sie möchte.

Ich schaue beim Training meiner Mannschaft zu und schicke Alice ein Bild vom Platz. Es ist wie ein kleines Spiel zwischen uns, uns immer überall mit hinzunehmen, als wären wir gar nicht getrennt. Dadurch weiß ich mittlerweile, wie ihr Zimmer und der große Garten hinter ihrem Haus aussehen. Ich weiß, wie cool Per in seiner Hockeyuniform wirkt und wie blau der Tennisplatz ist, auf dem Alice zwei Mal die Woche trainiert. Ganz manchmal schickt sie mir auch Bilder, auf denen sie drauf ist und bewirkt damit, dass ich sie noch mehr vermisse.

Als sie mir zwei Wochen nach unserem Abschied ein Bild davon schickt, wie sie mit ihrem Hund im Bett liegt, rufe ich sie sofort an. Ich bin noch in der Bahn, weil Nat mich ausnahmsweise nicht mitnehmen konnte, doch ich kann nicht warten. Alice hebt sofort ab und ich höre in ihrer Stimme ihr Lächeln, als sie sagt: „Hey Idiot." Ich lehne mich etwas mehr in den Sitz und meine: „Du sahst aus, als hättest du unglaubliche Langeweile." Sofort höre ich sie schmunzeln und muss wie immer selber auch lächeln. „Bist du noch nicht zuhause?", fragt sie und ich erzähle ihr, warum ich in der Bahn bin. Sie erkundigt sich nach meinem Fuß und ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren, um den ganzen Heimweg mit ihr reden zu können.

Als ich zuhause ankomme, erkennt Finja sofort, dass ich Englisch rede und das nur einen Grund haben kann. „Kannst du Facetime machen?", fragt sie direkt ganz aufgeregt und ich tue ihr schmunzelnd den Gefallen. Sie nimmt mir das Handy aus der Hand, sodass ich mit meinen Gehhilfen zum Sofa humpeln kann. Finja redet wie ein Wasserfall auf Alice ein und ist natürlich sofort verrückt nach ihrem Hund. Ich übersetze für meine Freundin und sie lächelt meine Schwester wie immer warm an. Erschöpft lasse ich mich auf die Couch sinken und lehne meinen Kopf gegen das Polster. Meine Schwester redet weiter, doch Alice mustert mich und lächelt leicht.

„Antworte ihr etwas, das sie glücklich macht und nimm mich dann mit in dein Zimmer", sagt sie und ich runzele lächelnd die Stirn. Ohne nachzufragen, mache ich, was sie gesagt hat und nehme meiner Schwester mein Handy wieder weg. Ich mache ihr den Fernseher an, stecke mein Handy in meine Jackentasche und humpele in mein Zimmer. Dort angekommen lasse ich mich auf mein Bett fallen und halte mein Handy so über mich, dass Alice mich sehen kann. „Was ist los, mein kleiner Idiot?", fragt sie und bei ihrer Stimmfarbe spüre ich sofort, wie mein Gesicht warm wird. Ich muss daran denken, wie schlecht ich darin bin, Victoria einen Korb zu geben. Einerseits wäre ich gerne ehrlich zu Alice, doch ich weiß, dass sie sich dann nur Gedanken machen würde. Ich will nichts mehr von Vicky, also spielt es eigentlich keine Rolle.

„Ich kann sehen, wie dein Kopf rattert", meint Alice, als ich nichts sage. Ich seufze und erwidere: „Ich vermisse dich einfach." Ein Lächeln umspielt ihren Mund, doch sie meint: „Ich mag es, wenn du das sagst, aber ich nehme dir nicht ab, dass das alles ist." Gott, ich wünschte, sie würde mich etwas schlechter kennen. „Es kotzt mich auch an, kein Fußball spielen zu können", füge ich hinzu und Alice nickt verständnisvoll. Sie denkt kurz nach und steht dann grinsend von ihrem Bett auf. „Dabei kann ich dir nicht helfen, aber ich bräuchte trotzdem deine Hilfe", meint sie und ich erkenne an ihrer Stimme, dass sie mit mir flirtet. Sofort muss ich leicht lächeln und bin gespannt, was sie vorhat.

Ich beobachte, wie sie ihr Handy auf ihrer Kommode abstellt, sodass ich einen großen Teil ihres Zimmers sehen kann. Noch immer kann ich kaum fassen, wie riesig ein einzelner Raum sein kann. Neben ihrem Bett steht eine Kommode, auf der alle möglichen Sportauszeichnungen stehen und bei der Tür daneben weiß ich, dass sie in einen begehbaren Kleiderschrank führt. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ihre Familie viel reicher ist als alle meine Freunde. „Ich war neulich in so einem neuen Laden und habe ein Shirt gesehen, dass ich einfach kaufen musste", sagt Alice und kommt dann nochmal näher ans Handy.

„Damit du mich noch etwas mehr vermisst", flüstert sie und geht dann langsam rückwärts, während sie sich ihr Shirt über den Kopf zieht. Ich weiß mittlerweile, dass sie eine Schuluniform hat, die sie immer tragen muss. Dadurch hat sie jetzt nur noch den Rock und ihren BH an und sieht darin verboten gut aus. Ich beiße mir auf die Lippe, als sie mir zuzwinkert und dann durch die Tür neben ihrem Bett verschwindet. Als sie wieder herauskommt, trägt sie ein dunkles Shirt mit einem kleinen Aufdruck, den ich sofort als das Vans-Logo identifizieren kann. Sie kommt wieder näher ans Handy und dreht sich dann, damit ich den Rücken des Shirts sehen kann. Darauf ist ein Skelett, das auf einer Luftmatratze im Meer schwimmt und es sieht echt cool aus. Dieses T-Shirt passt so kein bisschen zu dem Rest ihres Kleiderschranks, dass ich breit grinsen muss.

„Ich dachte, dass du dann vielleicht auch mal ein Shirt von mir anziehen würdest", sagt sie etwas schüchterner und es erfüllt mich mit Wärme. „Denkst du etwa ich möchte nicht auch aussehen wie eine Prinzessin?", necke ich sie und bekomme dafür von ihr die Zunge rausgestreckt. Sie nimmt ihr Handy wieder in ihre Hand und lässt sich neben ihrem Hund aufs Bett fallen. Tomte leckt ihr über die Wange, wodurch sie lachen muss und ihm sein Ohr krault. Wie gerne würde ich sie gerade küssen. „Also hast du das Shirt eigentlich für mich gekauft?", frage ich und sie nickt lächelnd. Tomte legt sich auf ihre Brust und sie gibt ihm einen Kuss auf den Kopf. Dann ertönt eine Stimme, die ich mittlerweile ihrer Mutter zuordnen kann und ihr Lächeln verrutscht leicht. „Ich muss los, ruf mich an, wann immer du willst", meint sie, wirft mir einen Kuss zu und legt auf. Und so machen wir es.

Ich rufe sie an, wenn ich abends mal wieder an meinem Ort bin, wenn Finja neben mir auf dem Sofa einschläft oder mir einfach nur langweilig ist. Alice ruft mich an, wenn sie vom Training nach Hause fährt (zu meinem ganz persönlichen Schock in einem Wagen mit einem Fahrer), wenn sie nicht schlafen kann und fast immer, wenn sie einen neuen Film angesehen hat.

Ich beichte ihr, dass ich mit Nat geredet habe und zu meiner Erleichterung stört es sie gar nicht. Durch die Distanz scheint ihre Angst beinahe verschwunden zu sein und hin und wieder ruft sie mich auch an, wenn sie genau weiß, dass ich bei Nat bin. Dann reden die beiden wie alte Freunde miteinander und es gibt mir für einige Minuten das Gefühl, Alice sei meine Freundin.

Ich weiß, dass das nicht der Fall ist, doch die wenigen Momente genieße ich trotzdem.


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt