[Kapitel 11/Teil 2]

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*Vega POV*

-Mitte des 19. Jahrhunderts-

Seitdem ich unser Familienhaus verlassen hatte, hatte ich nicht ein Mal hinter Vater her getrauert. Tief in mir brannte ein Schmerz der jedes Mal aufs neue aufflammte, wenn ich an ihn dachte. Er hatte uns nicht nur unsere Kindheit sondern auch unsere Mutter genommen. Wirklich keiner hatte sich um unser Wohlergehen gescherrt.

Das Feuer schien auch Tage nach meinem Auszug nicht zu erlöschen. Noch immer fühlte ich mich nicht gesehen oder gehört. Klar war ich meinen Leuten wichtig, doch war ich das nur unter uns. Alle anderen Menschen die mich auf der Straße sahen, erkannten in mir nur ein Mädchen im  heiratsfähigen Alter. Das kann doch nicht alles sein was eine junge Frau wie ich zu bieten hatte.

Das erste Mal sahen mich die Menschen, die namenlose junge Frau, als mir Elara ein blau ledernes Buch überreichte. Plötzlich standen wir im Mittelpunkt und hatten eine viel größere Aufgabe als alle anderen Männer in diesem Raum. Ich war dazu auserwählt worden die Schriften der Göttin Solaris zu lesen und die darin festgehaltene Prophezeiung zu offenbaren. Elara, eine junge Frau, war das letzte Erbe einer Göttin.

Endlich waren wir Frauen wichtiger als die Männer.

Das Buch strahlte so viel Macht aus, dass es mir solange ich es in meinen Händen hielt, einen Teil seiner Kraft spendete. Diese Kraft nutze ich dazu das Feuer in mir zu zähmen was mein Vater vor Jahren dort angezündet hatte. Ich fühlte mich freier und kräftiger als jemals zuvor. Es fühlte sich so an als würde es eine Lücke füllen die ich bis dahin nicht bemerkt hatte.

Ich hatte eine große Aufgabe bekommen.

Schon auf dem Weg zu der Königsburg hatte ich in der Kutsche bei dem spärlichen Licht des Mondes versucht die einzelnen Zeilen zu entziffern. Doch reichte dafür weder das Licht noch die Zeit aus. Am nächsten Morgen setzte ich mich mit Nara in die Bibliothek und versuchte wieder einmal ganze Sätze aus dem Buch zu erkennen, doch schienen die Buchstaben zu verschwimmen sobald ich auch nur ein Wort verstand. Die Worte kannte ich alle im einzelnen, doch konnte ich sie im Ganzen nicht verstehen. Auch Nara hatte es einmal versucht mir zu Helfen, doch ihr zeigten sich die Worte erst gar nicht. Für sie war das Buch leer. Sie erkannte nicht einmal die Farbe der Tinte.

Am Mittag laß ich Nara die Worte vor die ich erkennen konnte, doch auch so machte nichts einen Sinn. Es schien als würde uns etwas davon abhalten. Etwas hielt mich davon ab meine Aufgabe zu erfüllen. Ich war mir sicher, dass es daran lag, dass Elara noch nicht bei Bewusstsein war und sich alle Probleme wie in Luft auflösen würden sobald wir uns gegenseitig halfen die Schriften zu entziffern.

Leider bewachte Noan das Zimmer der Gesandten wie Zerberus die Hölle. Noan wirkte nicht wie er selbst und schien sich ganz auf seine Instinkte zu konzentrieren. Es wirkte so als hätte die Göttin auch ihm eine Aufgabe übertragen welche ihn durch seinen Unterbewusstsein leitete. Trotzdem versuchte ich es immer und immer wieder in das Zimmer zu kommen bis ich ihn endlich am nächsten Tag dazu überreden konnte mich in das Zimmer zu begleiten, denn alleine würde er mich ganz sicher nicht eintreten lassen. Ob es daran lag, dass er mir nicht vertraute oder der jungen Frau in dem Gästezimmer, war mir nicht ganz klar, doch wollte er aus einem Grund, den er mir nicht nannte, uns ungern alleine lassen.

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