Jede Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Seit meiner Rückkehr in die Astralwelt nahmen die Träume zu. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob es sich dabei um Alpträume handelte oder Visionen, und wenn es Visionen waren, ob sie die Vergangenheit oder Zukunft widerspiegelten. Dutzende Gesichter füllten meinen Kopf, hunderte von Bilder, die sich wie ein Karussell drehen. Es gab Visionen, die waren mir vertraut, aber auch jene, die neu hinzukamen. Schreckliche Augenblicke, vom Folter und Schmerz, von Blut und brechenden Knochen.
Aufgeschreckt durch den letzten Traum sprang ich aus dem Bett, wickelte mich in einen dünnen Morgenmantel und warf einen Blick auf den schlafenden Thomas, bei dem ich die Nacht verbracht hatte. Lautlos und barfuß schlich ich auf den Flur. Vollkommen planlos irrte ich umher, aufgekratzt und nervös. Trotz der kalten Nachtluft war ich in Schweiß gebadet. Die Wände fühlten sich beengend an, kamen mit jeder Sekunde näher an mich heran. Das Gefühl zu ersticken wurde stärker. Ich begann zu rennen.
Die Flügeltüren zur großen Dachterrasse knallten gegen die Fassade. Ein eisiger Luftschwall blies mir ins Gesicht. Die Nase in den Wind lehnte ich mich gegen die Brüstung. Endlich konnte ich wieder atmen.
„Kannst du nicht schlafen?"
Kyojis Gegenwart hatte ich bemerkt, bevor er den Balkon betrat. Ohne meine überempfindlichen Sinne hätte er sich anschleichen können, denn er bewegte sich vollkommen lautlos.„Nein." Seine große Hand legte sich auf meine Schulter. „Alpträume."
Mehr musste ich nicht sagen, er verstand sofort.Die Sterne am Himmel und die kühle Nacht erinnerten mich an den Abend, als ich beschloss, meine Familie zu verlassen und in die Menschenwelt zu reisen. Instinktiv zog es mich zu Arco, aber ich wusste, dass ich ihn nicht suchen durfte. So lautete der Deal mit meinem Großvater.
Meine Finger umklammerten die Brüstung. Über die Zeit auf der Straße, als jeder Tag ein Überlebenskampf war, hatte ich noch nie mit irgendjemand gesprochen. Nicht einmal mit Kaito. Nicht, weil ich ihm nicht vertraute. Gewisse Dinge meiner Vergangenheit wollte ich lieber vergessen.
Ein kleiner Teil in mir, jener Teil, der immer noch traumatisiert war, wollte darüber sprechen, wollte sich den Kummer von der Seele reden, damit die Last nicht mehr so schwer wog. Irgendwie wünschte ich mir wirklich, ich könnte mich jemanden anvertrauen. Vielleicht Kaito oder Kyoji. . .
Ein Sog riss uns nach oben. Bevor ich wusste, was geschah, wurden wir in einen Nebel gezogen. Mein Schrei erstarb auf dem Weg nach oben, als ich begriff, was hier passierte.
„Was geschieht hier?", schrie Kyoji über das Tosen des Sturms hinweg.
„Meine Gabe. . . ich kann sie nicht kontrollieren. . . ich sollte sie gar nicht mehr besitzen . . . die Hüter nahmen mir den Missbrauch verdammt übel . . ."
Wie in einer Spirale ging es abwärts. Farben explodierten. Sterne flogen an uns vorbei. Umrisse verschlossen. Ein Stimmengewirr, verzerrt und undeutlich. Wechselnde Jahreszeiten. Kälte und Hitze. Wieder Stimmen. Ein Schrei.
Schlagartig stoppte der Flug. In einem Knäul aus Armen und Beinen landeten wir in einer großen, matschigen Füße. Mein Aufprall wurde von einem Körper gedämpft. Stöhnend blinzelte ich gegen den strömenden Regen. Sofort kroch die Kälte in meine Gliedmaßen.
„Autsch. Alles noch dran bei dir?", erklang eine gedämpfte Stimme unter mir.
Hastig rappelte ich mich auf und verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz durch mein Becken schoss. „Ja, denke schon." Durch den Regenschauer konnte ich kaum die Hand vor Augen erkennen. „Wo sind wir?" Wessen Vergangenheit war das?
Mein Blick zuckte umher, auf der Suche nach Anhaltspunkten. Einem vertrauten Gebäude, einem Hinweis, der mir vielleicht weiterhalf. Dabei fiel mein Blick auf eine dunkle Seitengasse auf der gegenüberliegenden Gasse. Dort hockte, vom Regen völlig durchnässt, ein kleines Mädchen, das Gesicht in den Händen. Ihre Kleidung war zerfetzt und dreckig, die nackte Haut von Blessuren und blauen Flecken übersät. Das silberblonde Haar hing in dicken Strähnen nach unten.
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Die Drachenstern Saga - Part 2 - Drachenkind und Drachenkrieger
FanfictionDer Tod war kein Abschied für immer. Er war nur ein Zwischenstopp auf einer weiteren Reise. Manchmal war er auch der Beginn zu etwas Neuem. Wenn eine Liebe endete, konnte eine Neuen gedeihen. Doch was, wenn das Herz nicht loslassen konnte? Wenn die...