Eine Fremde

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Harry

Das kam unerwartet und dennoch klang es unglaublich verführerisch. Ich hielt den Atem an und ich sah ihr tief in die Augen. Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl, wie zu vor im Pool. Eine Art Angst oder Furcht, etwas Falsches zu sagen oder zu machen, was sie von mir wegzerren könnte. Als ich sah, wie sie unter Wasser kämpfte, die Luftblasen aufstiegen, bis sie versiegten, trieb es mir einen kalten Schauer über meinen Rücken. Ohne zu zögern, sprang ich in den Pool und holte sie hoch. Mein Arm war fest um sie geschlungen. Ich wusste nicht, wie sie reagieren würde auf meine Berührungen, aber dieser Moment war ein Notfall und ich konnte nicht anders handeln.

Sie öffnete sich mir und erzählte mir von dem, was Brenner getan hatte. Ich konnte nicht anders, ich wollte sie festhalten, ihr zeigen, dass ich für sie da war. Ihr den Halt geben, den sie verdient hatte. Mein Herz schlug bis zum Himmel, als wir am Poolrand standen. Nicht nur ich versuchte sie von ihrer Last zu befreien, sie tat das gleiche mit mir. Sie nahm mir das Schuldgefühl und als wir voreinander standen, war es plötzlich anderes zwischen uns. Wir waren uns so nahe. So verdammt nahe. Es fühlte sich gut an sie zu halten. Und diesen Drang, sie bei mir zu behalten, war groß. Ich wollte sie küssen, noch mehr spüren. Doch das Piepsen des Ofens unterbrach uns. Vielleicht war es aber besser. Vielleicht wäre es eine Dummheit gewesen, sie in diesen Moment zu küssen.

Ich versuchte mich zu kontrollieren, mich zurückzuhalten, um sie nicht zu vergraulen. Doch dieses kleine genüssliche Stöhnen zwang mich fast in die Knie. Gott, wie gerne würde ich das noch einmal hören. Langsam begann die Stille unangenehm zu werden. „Tut ... mir leid.", kam es von ihr mit vollen Mund. Ich musste lachen. Nicht weil es albern war, sondern weil wir uns seltsam benahmen. Wir waren erwachsen und trotzdem verhielten wir seltsamer als Teenager. „Du musst dich nicht entschuldigen.", meinte ich breit grinsend. „Es freut mich, wenn es dir schmeckt. Also hör auf dich zu entschuldigen und iss. Genieß es!" Entzerrte ich diese Spannung zwischen uns und gab mir Mühe, das im Pool zu verdrängen.

Auch sie begann zu lachen und dieses Mal aus tiefsten Herzen. Wie an dem Abend, als wir auf dem Sofa auf ihrer Ausstellung saßen und uns unterhielten. Dieses Lachen war frei von Sorge und macht mein Herz leichter. Es war ein tolles Gefühl, sie lachen zu hören. Die Anspannung zwischen uns fiel ab und wir genossen gemeinsam unser Ofengemüse. Ich freute mich, dass ihr das Essen schmeckte und sie sogar eine zweiter Portion aß. „Wenn ich wieder in London bin, muss ich das auch machen. Es war köstlich.", meinte sie und reichte mir ihre leere Schüssel zum Abwaschen. Ihre Worte ließen mein Herz in meine Brust sinken. Ich vergaß, dass sie nur temporär hier war und bald wieder nach London fliegen würde. „Ich ... ich kann dir ein bisschen von der Gewürzmischung ... geben, wenn du ... möchtest.", bot ich ihr an und wich ihren Blick aus.

Plötzlich fiel mir das Atmen schwer und eine tiefe Traurigkeit machte sich in mir breit. „Harry? Ist alles okay? Ich meine ...", begann sie zu fragen und legte auf ihre Hand auf meine Schulter. „Ja ,... ja, alles in Ordnung.", log ich und fühlte mich im selben Augenblick schlecht. Sie nahm ihre Hand wieder weg. „Okay,... gut.", hörte ich leise neben mir. „Ich werde... noch mal hochgehen... ich muss noch mal telefonieren." Informierte sie mich und ich hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. Ich sah im Augenwinkel, wie sie noch einmal zu mir schaute und dann Treppe hochging. Wütend schmiss ich den Schwamm ins Abwaschbecken und fluchte leise. Gott, was stimmte nicht mit mir? Sie war eine Fremde und dennoch spielten meine Gedanken in ihrer Nähe einfach verrückt.

Sofort lief ich ihr nach. „Emma, warte ...", rief ich ihr hinterher und eilte die Treppe rauf. Sie stand schon im Gästezimmer und hielt ihr Handy in der Hand. Doch was sollte ich ihr sagen, wie sollte ich ihr das erklären? Ich musste mir was einfallen lassen. „Hör zu Emma, wenn ..., wenn irgendwas ist oder du etwas brauchst. Ich bin jederzeit da für dich. Hier!", erklärte ich und nahm ihr das Handy aus der Hand. Eilig und vielleicht etwas unüberlegt tippte ich ihr meine Handynummer ein und speicherte sie unter H. ab und gab es ihr zurück. „Da-anke Harry ...", flüsterte sie leise und sah mich mit großen Augen an. Wieder stieg diese Spannung zwischen uns. „Nicht dafür Emma ...", hauchte ich und trat noch etwas näher. Sie war mir wieder so nahe und ich konnte diesen besonderen Duft von Rosen und Mandarinen wahrnehmen. Unsere Blicke wichen nicht. Keiner ließ den anderen aus den Augen. „Emma... ich ...", begann ich und legte meine Händen an ihre Schultern. Langsam beugte ich mich zu ihr herunter. Sie war wie ein Magnet und ich konnte mich dieser Anziehungskraft nicht entziehen. Ich legte eine Hand an ihre Wange und war ihren vollen rosa Lippen so nahe, dass ich die Wärme ihrer Haut an meiner Spüren konnte.

Dann klingelte ihr Handy und wir erstarrten, bevor unsere Lippen sich berührten. Wir sahen uns tief in die Augen. „Ich ... ich sollte ran gehen.", stotterte sie heiser. „Ja ... Natürlich ... ich... Ähm. Tut mir leid... ich werde ... unten warten.", meinte ich und ließ sie los. Sie nickte leicht und senkte für einen Augenblick den Kopf, um auf ihr Handy zusehen. Ich lief langsam rückwärts und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ich hätte sie fast geküsst. Und das schon zum zweiten Mal. Ich drehte mich um, um nicht die Treppen rücklings herunterstürzten. Ich hörte noch, wie die Tür ins Schloss fiel und ich ließ mich auf den Stufen nieder. „Ich bin so ein Vollidiot.", beschimpfte ich mich selbst. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Sie hatte vor nicht mal 48 Stunde Fürchterliches durchgemacht und ich hatte gerade nichts Besseres im Kopf, als sie einfach küssen zu wollen. Wie bescheuert war ich nur. Das war nicht die Hilfe oder den Freiraum, den ich ihr bieten wollte. Im Gegenteil, ich war gerade nicht besser als Brenner. Ich hasste mich dafür, sprang auf und eilte runter in die Küche. Ich räumte alles zur Seite und vordrang den Wunsch nach ihrer Nähe. Doch ließ es mich nicht los. Ihr Blick, ihre Lippen, ihre Wärme und ihr Duft. Verdammt, sie verdreht mir meinen Verstand. Schneller als mir lieb war, hatte ich den Abwasch fertig. Ich warf das Handtuch zur Seite, machte mir einen Kaffee und setzte mich in die Leseecke.

Die Zeit schien gar nicht zu vergehen. Diese 30 Minuten kamen mir vor wie Stunden, als ich endlich Schritte auf der Treppe hörte. „Harry?" Hörte aufgeregt ihre Stimme. Ich atmete tief durch. „Ich bin hier Emma in der Leseecke." Ich schloss mein Buch, erhob mich und stand vor Emma, die ihre gepackte Tasche hielt. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich war eindeutig zu weit gegangen und hatte sie nun vergrault. „Emma,... es tut mir leid,... es war ein Fehler...", stotterte ich vor mich hin und machte einen Schritt auf sie zu. Ihr Augen weiteten sich. „Oh... Ähm...Okay.", kam es stockend von ihr und etwas brach zwischen uns. „Das am Handy... war Carter. Man hat Brenner festgenommen. Er ist unter der Last der Anschuldigungen zusammengebrochen und hat alles gestanden. Ich wollte mir ein Taxi rufen und zurück ins Hotel, doch leider wusste ich deine Adresse nicht.", erzählte sie mir und knetete nervös wieder ihre Hände. „Du gehst?", fragte ich mit dünner Stimme. „Ja,... bitte sei so gut ... und bestell mir ein Taxi.", bat sie mich. Schweigend nickte ich. Doch ich rief kein Taxi, sondern Rocco, der nach wenigen Minuten schon an meiner Tür stand. Nun hieß es Abschied nehmen. Und das fühlte sich nicht gut an.

„Danke für alles, Harry.", bedankte sie sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen zögerlichen Kuss auf die Wange. Doch bevor ich etwas sagen konnte, drehte sie sich um und stieg in den Wagen von Rocco. „Alles okay, Harry?", fragte er mich mit prüfendem Blick. „Nein, nichts ist okay.", gab ich zu, drehte mich um und verschwand nach drinnen. Ich hörte den Wagen, wie er von meiner Zufahrt fuhr und etwas von mir mit sich nahm. Mit dem Blick auf das Bild „Sunset Love" verabschiedete ich mich schweigend von Emma.

Die Tage vergingen und ich hörte nichts mehr von Emma. Die Gedanken an sie ließen mich nicht los. Ich versuchte alles. Ich betäubte mich mit Alkohol, hing in dreckigen Bars ab, machte mit billigen Mädchen rum und lenkte mich mit tollen Autos ab. Aber nichts funktionierte. Rocco hielt mir eine Standpauke und ich schloss mich seitdem in meinem Haus formlich ein. Ich hatte es so dermaßen vermasselt mit ihr. Ich wollte ihr nur helfen und habe sie vergrault. Jeden Tag schaute ich auf ihrem Instagram-Profil und überlegte, ob ich ihr eine Nachricht schreibe. Oft tippte ich halbe Romane und versuchte mich bei ihr zu entschuldigen. Doch die Furcht der Ablehnung oder dass sie weiterhin mich ignorierte würde, ließ mich den Text immer wieder löschen. Ich hoffte, dass sie mir irgendwann eine Nachricht schreiben würde. Aber mit jeder vergangenen Woche schwand die Hoffnung und der Glaube, dass ich sie je wieder sehen würde.

Nachdem ein Monat verging, rappelte ich mich wieder auf und versuchte mich auf mein Leben zu konzentrieren. Einige Idee für neue Songs schwirrten mir im Kopf umher und ich wusste, dass ich das hier nicht umsetzten konnte. Ich musste aus diesem Haus in L.A. raus. Nicht nur aus dem Haus, sondern aus Kalifornien. Mit diesen entschlossenen Gedanken führte ich ein paar Anrufe, packte meine Sachen und buchte mir einen Flug. Kurz bevor mich Rocco abholte, stand ich in diesem Betonklotz und sah mich um. Mein Blick blieb auf dem Bild von Emma hängen. „Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder Love.", flüsterte ich und löschte das Licht. Ich verließ die Villa, schloss ab und setzte mich in den Wagen von Rocco. Im Rückspiegel betrachtete ich wie mein Anwesen immer kleiner wurde und irgendwann gänzlich verschwand.

Breathtaking || H.S. [18+] || GermanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt