Kapitel 6

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Like the thorns of a rose

Kapitel 6

Hadley

Es ist mitten in der Nacht. Die Rosenbüsche fahren ihre spitzen Dornen aus, die Wolken am Himmel prasseln starken Regen auf das Gelände der Academy und der Wind lässt die Bäume beängstigend wehen und rauschen. Ich befinde mich mutterseelenallein auf der Wiese, meine Klamotten sind klatschnass, die Haare kleben mir im Gesicht. Pure Angst durchflutet meinen Körper, ich zittere am ganzen Leib. Ich laufe um mein Leben, eine dunkle Gestalt verfolgt jeden meiner Schritte über den Campus. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, eine dunkle Stimme ruft immer wieder meinen Namen. Verführerisch, wie eine Droge. Sanft, wie das Rauschen des Meeres. Ich darf nicht auf diesen Trick reinfallen, also renne ich weiter. Durchnässt, frierend und geschwächt. Das Monster lockt mich in einen Hinterhalt, in eine dunkle Gasse. Mein Atem geht schwer, mein betäubter Körper stößt gegen eine harte, eiskalte Mauer. Es gibt kein Entkommen, kein Ausweg. Der Schatten der bösen Kreatur biegt um die Ecke, bis sie direkt auf mich zukommt. Er weiß genau, was er will. Oder eher gesagt, nach wem er sucht. Er will mich, als Beute der Nacht. Kreischend versuche ich aus der Falle zu treten, doch sein Schatten fällt über mich. Erst einen Meter vor mir enthüllt er sein Gesicht, was mich zum Verstummen bringt. Es ist Elions Ebenbild, doch es ist sein böser Zwilling, der mich in die Tore der Dunkelheit geführt hat. Ein kehliges Schreien findet seinen Weg aus meiner Lunge, als er sich über mich beugt und meinen Körper schmerzhaft gegen die kalte Mauer drückt. Seine Hand findet meinen Hals, sein eiskalter Daumen streichelt unsanft über meine Halsschlagader. Er weiß, wie er dem Ganzen ein Ende setzen kann. Ein grauenhafter Tod. Ich bettle weinend, mich gehenzulassen, ich flehe das Monster an, mich zu verschonen. Meine Worte gelangen kaum an die Oberfläche. Durch seinen starken Griff bringe ich sie nicht über meine Zunge. Er ignoriert meine Worte, nimmt mich gar nicht wahr. Ich bin wie Luft für ihn, er lechzt nach meinem Puls. Seine Hände legen sich fester um meinen Hals, er bringt mich zum Kreischen, mein ganzer Körper vibriert und zittert vor Angst. Er drückt noch fester zu, was meine Rufe zum Verstummen bringt. Er starrt mir tief in die Augen, bis der letzte Schlag durch mein Herz hallt.

Erst dann schrecke ich auf und sitze mit bebender Brust auf meinem Bett. Panisch greife ich an meinen Hals, kontrolliere meinen Körper nach möglichen Schmerzen, doch mir geht es gut. Es war alles nur ein Traum, denke ich. Aber im Inneren weiß ich ganz genau, dass das Monster sein Unwesen auf dem Campus treibt und darauf wartet, mich in die Enge zu treiben.

Die Nacht endet mit hellen Sonnenstrahlen in meinem Gesicht. Ich war so müde und erschöpft, dass ich erst einmal gar nichts peile. Tracy, meine Mitbewohnerin, ist bereits auf den Beinen, durchquert unser Zimmer mit ihrer Zahnbürste im Mund und summt etwas vor sich hin. Ja, während sie Zähne putzt. Stöhnend rolle ich mich auf die Seite, drücke mir das Kissen über den Kopf und versuche, noch einmal einzuschlafen.

Man soll darauf achten, was man in der ersten Nacht in einem neuen Zuhause träumt. Einige behaupten, dass dieser Traum zur Realität werden kann. Wenn das so ist, dann entwickelt sich meine Zukunft zu einem noch düsteren Ort, als ich es bereits befürchtet habe. Was will mir das Universum sagen, wenn mich ein fürchterliches Monster bei Nacht über den Campus jagt? Verdammt, ich sollte mir meine Koffer schnappen und in ein Land ziehen, wo mich niemand findet. Ich wollte schon immer mal nach Chile. Ist mein Reisepass noch gültig?

»Habe ich dich geweckt?« Tracy scheint mitbekommen zu haben, dass ich nicht mehr schlafe.

Ich vergrabe mich tiefer im Kissen, trotzdem murmle ich eine verschlafene Antwort. »Nein, Schuld dafür sind eher die grellen Sonnenstrahlen und ein Monster.«

»Ein Monster?«, wiederholt sie belustigt und ich höre, wie sie durch ihre Kleiderbügel wühlt. »Damit meinst du hoffentlich nicht mich. Schnarche ich nachts?« Langsam drehe ich mich zurück auf den Bauch und reibe mir über die Augen.

»Nein, keine Sorge. Ich hatte nur einen Albtraum, das ist alles.« Als sich meine Augen endlich an das Licht gewöhnt haben, sehe ich zu ihr. »Du schnarchst nicht.«

»Dann habe ich ja Glück gehabt.« Sie zieht einen Bügel mit einem schwarzen, langen Kleid hervor.

»Wird das nicht zu warm?« Ich deute mit einem Nicken auf das Kleid. »Schwarz zieht die Sonne doch mehr an.«

»Wenn du einen Blick in meinen Kleiderschrank wirfst, findest du keine andere Farben.« Tracy und ich haben uns gestern Abend kennengelernt, als sie von ihrem Tennistraining kam. Sie hat recht. Auch gestern war ihr Körper komplett in Schwarz gehüllt. Tracy hat mir erzählt, dass sie aus Ägypten stammt, aber die letzten vier Jahre in Deutschland gelebt hat. Sie scheint etwas chaotisch zu sein. Nachdem sie duschen war, flogen ihre Kosmetikprodukte überall im Badezimmer herum. Sie hat schwarze Haare, eine große Figur und braune Augen, die goldene Sprenkel besitzen.

»Im Gegensatz zu dir, werde ich wohl wie ein bunter Vogel wirken.« Mit der Hand vor dem Mund, rapple ich mich gähnend auf und schwinge meine Beine über die Bettkante.

»Das kann ich noch gar nicht beurteilen. Deine Koffer sind noch immer verschlossen.« Tracy tupft sich Lipgloss auf die Lippen, bevor sie sich ihre Tasche schnappt und sich in unserem Ganzkörperspiegel mustert, der an der Tür hängt. Mein Blick schweift zu meinem Gepäck. Ich habe noch nicht damit begonnen auszupacken. Ich habe meinen Koffer nur für meinen Schlafanzug und meine Kulturtasche geöffnet. Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, dass sich heute für mich eine Gelegenheit ergibt, unbemerkt abzuhauen. Vielleicht durch einen Heißluftballon, der zufällig an unserem Fenster vorbeischwebt? Ja, ich weiß, dass ich mir besser keine Hoffnungen machen sollte. 

»Darum kümmere ich mich gleich«, erkläre ich. »Und wohin gehst du um diese frühe Uhrzeit? Es ist gerade mal sieben.« Auf ihrem Schreibtisch steht eine Uhr und ich bin selbst überrascht, wie früh es ist. Der Unterricht beginnt erst in knapp zwei Wochen, wohin zur Hölle muss Tracy um diese Zeit? Ich könnte mich sofort ins Bett fallen lassen und noch locker vier Stunden schlafen.

»Ich gehe zum Yoga. Jeden Morgen findet ein Kurs im Schulgarten statt. Das solltest du mal ausprobieren, es bringt deine Seele und deinen Körper in Einklang mit der Natur. Man steht praktisch mit den ersten Sonnenstrahlen auf und das Zwitschern der Vögel ist wie Musik in den Ohren.« Aus ihrem Schrank zieht sie eine Matte hervor und schon düst sie zur Tür hinaus.

»Das muss man aber nicht unbedingt um sieben Uhr machen«, murmle ich mir selbst zu und kuschle mich wieder ein. Trotz meiner Müdigkeit werde ich über den Yogakurs nachdenken. Ich liebe Aktivitäten in der Natur, nur nicht unbedingt so früh am Morgen. Ich habe gestern nicht einmal meine Bettwäsche ausgepackt, sondern mit den losen Laken geschlafen. Je weniger Sachen ich in diesem kleinen Zimmer von mir sehe, desto unbefangener kommt mir dieser Ort vor.

Nach einer weiteren Stunde schleppe ich mich schließlich aus dem Bett, da ich einfach kein Auge zubekomme. Ich nutze die Gelegenheit, alleine im Zimmer zu sein, hieve meine Koffer auf das unordentliche Bett und beginne meine Sachen auszuräumen. Später muss ich unbedingt das Sekretariat aufsuchen. Nicht nur um meine ganzen Unterlagen abzuholen, sondern auch um zu fragen, woher ich eine funktionsfähige Sim-Karte bekomme. Oder zumindest das WLAN-Passwort. Es macht mich langsam wahnsinnig, ohne jegliche sozialen Kontakte zu leben. Außerdem muss ich meinen Eltern schreiben und meinen Freunden, dass sie mich schleunigst aus dieser Hölle befreien müssen.

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