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"Oh, why you look so sad? Tears are in your eyes, come on and come to me now. Don't be ashamed to cry."

I'll Stand By You - The Pretenders


Ich hatte immer schon ein sehr spezielles Verhältnis zu jedem einzelnen meiner Brüder gehabt. Hugh zum Beispiel war der typische große Bruder, verhielt sich dementsprechend und besaß deswegen teilweise einen ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt. Außerdem war er immer zur Stelle gewesen, wenn ich ihn gebraucht hatte. Nate war der Bruder, mit dem ich am meisten Kontakt hatte, der beinahe alle meine Geheimnisse kannte und immer einen Rat wusste. Auch, wenn ich diesen nicht immer auf Anhieb verstand. Er war so etwas wie mein bester Freund, jemandem, den ich bedingungslos vertraute.

Und dann war da noch Dylan.

Obwohl zwischen Dylan und mir nur wenige Jahre lagen, kam es mir dennoch so vor, als wären es Welten. Mittlerweile hatte sich das etwas gebessert, doch als wir noch jünger waren und beide bei unseren Eltern gewohnt hatten, war es teilweise wirklich erschreckend offensichtlich gewesen, wie unterschiedlich wir doch waren. Deshalb hatten wir es auch geschafft, Zimmer an Zimmer zu leben und uns dennoch tagelang nicht miteinander zu unterhalten. Es geschah nicht einmal mit Absicht und war auch nicht in irgendeiner Weise böse gemeint - es war einfach so. Und im Grunde hatte sich auch keiner von uns beiden jemals daran gestört.

Als ich dann nach London gezogen war, wurde unser Verhältnis noch seltsamer und der Kontakt noch weniger. Manchmal hörten wir wochenlang nichts voneinander und wussten nur über unsere Brüder und Eltern, was beim jeweils anderen gerade passierte und wie es ihm ging. Doch auch das war irgendwie so normal für uns beide geworden, dass ich mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht hatte. Ich wusste, dass Dylan nun einmal nicht so gesprächig und neugierig wie Nate oder so harmoniebedürftig und kontaktsüchtig wie Hugh war. Er war einfach anders, ruhiger und lebte auch ein klein wenig in seiner eigenen Welt. Trotzdem konnte ich mir immer sicher sein, dass er da sein würde, wenn ich ihn brauchte.

So wie heute, als er extra mit dem Nachtzug hierher gefahren war, um mich und meine Sachen sicher von London nach Aberdeen zu kutschieren. Für ihn war das keine große Sache, doch für mich bedeutete es eine Menge. Vor allem, weil er nicht fragte. Er fragte mich nicht aus, wie es meine Eltern oder Nate getan hätten und versuchte mich auch nicht wie Hugh zu trösten. Er ließ mich und das Chaos in mir einfach in Ruhe und widmete sich stattdessen hingebungsvoll der Aufgabe, meine Sachen in den weißen, hässlichen Kastenwagen, den er extra besorgt hatte, zu verstauen. Und dafür war ich ihm so dankbar, dass ich es nicht einmal in Worte fassen hätte können. Vermutlich hätte er es auch überhaupt nicht hören wollen.

Deshalb ließ ich es sein und half ihm stattdessen beim Einladen. Als wir schließlich fertig waren, standen wir beide mit leicht zur Seite geneigten Kopf vor dem Laderaum des Wagens und betrachteten unser Werk. Doch während sich auf Dylans Gesicht aufgrund des Anblicks ein zufriedenes Grinsen abzeichnete ("Und da soll noch einmal jemand behaupten, dass sich meine Tetrissucht nicht bezahlt macht"), war auf meinem bloß ein deprimierter Ausdruck zu erkennen. Denn mein Leben hatte genau in zwölf Kartons, zwei Koffer und ein paar kleinen Taschen gepasst. Ein Umstand, der mir irgendwie nicht gefiel.

Trotzdem versuchte ich gute Miene zum bösen Spiel zu machen und mir möglichst nichts von meinen Gefühlen anmerken zu lassen. Selbst als es Zeit wurde, die etwa neunstündige Heimreise anzutreten, unterdrückte ich mit allen Mitteln diese schreckliche Leere, die sich in mir auszubreiten schien. Ich hätte am liebsten geschrien, geweint oder beides zusammen, doch ich tat es nicht. Stattdessen warf ich einen letzten Blick auf mein altes Zuhause, holte einmal tief Luft und wandte mich danach schweren Herzen davon ab.

With A Little Help From My Friends 2 - Heartbreak GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt