44. Alles gut

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Ich saß schweigend am Küchentisch und beobachtete Grace, welche an der Küchentheke stand und auf ihrem Laptop rum tippte.

Die Ärzte konnten immer noch nichts genaueres zu Skylas Krankheitsbild sagen.

Nur das sie Leukämie, also Blutkrebs hatte und momentan im künstlichen Koma lag, nachdem sie bei uns Zuhause zusammengebrochen war.

Seitdem ich nun seit zwei Tagen wieder zurück in London war, hatte ich für diese Woche ein Shooting abgesagt und einmal mit Marc telefoniert.

Er war fast jeden Tag im Krankenhaus. Es war unglaublich wie viel er auf sich nahm, nur um bei Sky zu sein und ihr beizustehen.

Mit Nico hatte ich nicht telefoniert, nur hin und wieder schrieben wir miteinander.
Mein Handy surrte neben mir auf und ich schaute gelangweilt auf das helle Display.

Eine Nachricht von Nico:
I just wanna be holding you in my arms, running my fingers through your hair, while slow kissing you

Die Nachricht brachte mich ungewollt zum Lächeln. Ich legte meinen Kopf schief und las den Text erneut.
"Aha, wer kann denn da wieder Lächeln?!", meinte Grace freudig und setzte sich neben mich auf einen Stuhl.

Stumm zeigte ich ihr die Nachricht und sie las sie laut vor. "Awwwww", sagte sie und strahlte mich an.

Ich hatte seit Tagen nicht mehr richtig geredet.
Meine Gedanken schweiften immer wieder zu meiner Schwester, wie sie verloren, einsam und gebrochen in dem riesigen weißen Bett gelegen hatte. Angewiesen auf mindestens zehn Maschinen.

Meine Mutter, wie sie verzweifelt und hilflos da saß, unfähig etwas für Ihre Tochter zu tun und einfach zusehen musste, wie Sky alleine kämpfen musste.

Marc, wie er auf einem Stuhl saß und schlief, zu erschöpft von den letzten Tagen, in denen er seiner Freundin Tag und Nacht beigestanden hatte.

Mein Kleiner Bruder, Ryan, wie er ängstlich und verwirrt fragte, wieso seine Schwester nicht Zuhause war und wie ich mein Versprechen brechen konnte, dass sie nicht gehen würde.

Mein Vater, der trotz allem Schmerz und aller Ungewissheit jeden Tag das Haus verließ und auf die Arbeit ging, immer im Hinterkopf, dass seine jüngste Tochter im Krankenhaus lag und gegen den Krebs ankämpfte.

"Lia?", fragte Grace vorsichtig und riss mich aus meinen Gedanken, "alles okay?"
Ich nickte, "ja, alles gut!"
"Bist du dir sicher, dass du nicht mit Nico telefonieren willst?"
Wieder nickte ich, ich konnte nicht schon wieder alles erzählen.
In acht Tagen würden wir sowieso zu ihnen nach Amerika fliegen.

Grace neben mir seufzte und stand langsam auf. "Warst du in letzter Zeit mal auf YouTube?", fragte sie mich, während sie einen Teller in die Spühlmaschine einräumte.

"Nein, wieso?", fragte ich zurück.
"Ich habe vor Kurzem mit Dan telefoniert und er hat mir erzählt, dass bei denen jetzt immer auf Konzerten und so ein Mann mit Kamera rum hängt, der die Jungs filmt und das Material wird dann auf YouTube hochgeladen."

Ich zuckte nur mit den Schultern, "wir kennen das doch eh alles... Ich gehe mich mal umziehen"

Grace sah mich kurz, mit dem Rücken an die Arbeitsplatte gelehnt, an und nickte, "hast du heute noch irgendwas vor?"
Ich schüttelte nur den Kopf und ging ins Badezimmer.

Schnell sprang ich unter die Dusche und machte mich fertig. Nachdem ich mir frische Sachen angezogen hatte, räumte ich ein wenig meine Sachen auf. Da ich in letzter Zeit quasi bei Grace eingezogen war, hatten wir meine Sachen im Gästezimmer verstaut.

Als ich meine Sporttasche, in welcher meine Klamotten waren, aufs Bett heben wollte, fiel mir ein kleiner weißer Zettel entgegen.
Eine Nummer war mir schwarzem Kulli darauf geschrieben. Kurz runzelte ich die Stirn, bis mir wieder einfiel, wessen Nummer das war.
Ian!

Langsam tippte ich seine Nummer in mein Handy ein. Gespannt wartete ich auf das Tuten.
"Ian Miller?"
"H-hey Ian, ich bin's Lia. Aus dem Studio.", meldete ich mich nervös, wahrscheinlich würde er sich nicht mal mehr an mich erinnern.

"Oh Hey Lia, na wie geht's dir so?"
"Alles gut", log ich, "wo bist du gerade?"
"Ich bin im Beats, wieso?"
"Ich glaube ich komme mal vorbei.", beschloss ich kurzer Hand und fing schon an meine Sachen zusammen zu packen.

"Cool, dann sehen wir uns gleich", meinte Ian freundlich.
"Ja, bis gleich!", verabschiedete ich mich und legte auf.

"Gracie?", rief ich durch das gesamte Haus, "ich gehe gleich nochmal weg!"
"Okay!", kam es aus dem Bad zurück.
Mit meiner fertig gepackten Sporttasche lief ich zum Auto und fuhr los.

Der Parkplatz war fast komplett leer. Ruhig stieß ich die Eingangstür auf und lief auf den Tresen zu.
Ian lehnte am Tresen und spielte an einer Sport-Uhr rum. Er schien mich nicht zu bemerken, ich räusperte mich leise und klopfte auf den Tresen.

"Hey!", begrüßte ich ihn und lächelte ihn an.
"Oh Hallo", er grinste und legte die Uhr unter den Tresen,  um sich auf die Holzplatte zu stützen.

"Wie kann ich dir behilflich sein?", meinte er. Ich musterte ihn, bemüht weiterhin freundlich zu lächeln.
"Ähm..." "Okay", unterbrach er mich, "ich schätze ich muss dich wohl zu deinem Glück zwingen. Also...",er drehte sich kurz um und blickte auf die Uhr, bevor er fortfuhr,  "ich habe in zehn Minuten Feierabend."

Jetzt musste ich wirklich lachen und verdrehte gespielt die Augen, "und dann?"
"Dann, gehen wir einen Kaffee trinken!"
"Um 18.00 Uhr?", fragte ich belustigt, doch Ian zuckte nur mit den Schultern, "warum nicht?"
Lächelnd schüttelte ich den Kopf.

Eine halbe Stunde später saßen wir tatsächlich in einem Café. Ich nippte gerade an meiner Cola, als Ian mich fragend ansah.

"Was?", fragte ich amüsiert.
"Warum bist du gekommen? Was ist passiert?"
"Wie kommst du darauf, dass etwas passiert ist?"
"Naja", fing er an, "das letzte Mal als es dir schlecht ging, bist du auch ins Studio gekommen."

Ich seufzte kurz bevor ich ihm alles erzählte. Und zwar wirklich alles.
Er hörte mir aufmerksam zu. Ich hatte zwar Tränen in den Augen, aber ich schluckte sie herunter.
"Hey, ist schon gut", meinte er sanft.

Er sah mich freundlich an. In seinen Augen sah man Wärme und Sorge.
"Bist du momentan alleine Zuhause?", fragte er mich vorsichtig.
Ich schüttelte den Kopf, "Nein, ich wohne bei meiner besten Freundin."

Kurz nickte er erleichtert: "und dein Freund?"
"Er - er ist momentan nicht da, wegen seiner Arbeit."
"Weiß er denn was alles passiert ist?"
"Nein"
"Nein?", fragte Ian mich überrascht.

"Ich will ihm jetzt nicht noch mit meinen Problemen belasten", murmelte ich leise.
"Du musst es ihm sagen , dass weißt du schon oder?"
Langsam nickte ich, "ich gehe sowieso bald zu ihm."

Wir redeten noch eine Weile bis Ian sich verabschiedete: "Ich muss jetzt los mein Freund wartet Zuhause auf mich!"
Ich sah überrascht auf, "D-dein Freund, also dein fester Freund?"

Ian grinste belustigt, "ja mein fester Freund. Ist das ein Problem für dich?"
Bei seiner letzten Frage wirkte er etwas unsicher und sah mich forschend an.
"Nein! Nein, ich war nur gerade etwas, naja, überrascht...", jetzt musste auch ich lachen.

"Wie auch immer", Ian stand auf und ich erhob mich ebenfalls,"wir müssen das auf jeden Fall wiederholen!", er zwinkerte mir freundlich zu.
"Ja, auf jeden Fall!",auch ich lächelte und wir umarmten uns kurz.

"Du kannst mich jederzeit anrufen und so, okay?" "Okay, danke!", nachdem wir uns verabschiedet hatten, fuhr ich wieder nach Hause.

Grace lag schon im Bett und las etwas.
Ich machte mich möglichst schnell Bettfertig und legte mich neben sie.
"Na, geht's dir gut?", begrüßte sie mich.
"Ja mir geht's gut!", meinte ich und drehte mich um, obwohl ich genau wusste, dass Grace wusste, dass es mir nicht gut ging.


The Flashlight in your EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt