Kapitel 1

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"NEIN! ICH WILL NICHT, ICH WILL NICHT, ICH WILL NICHT!" Meine kleine Schwester klammerte sich krampfhaft an dem Türrahmen der Haustür fest, während mein Vater und Sven versuchten, sie wegzuziehen und in das Auto zu setzen. Ich verdrehte genervt die Augen und konzentrierte mich mehr auf die Musik, die durch die Kopfhörer in mein Gehirn strömte.

_Spritzen neben dem Herd, fixer Leben nichts wert, nur Liebe für sie. Klingen ritzen gegen den Schmerz, nichts bewegendes Herz, vermagert und nackt, ihr Bett kennt Namen, Samen der Versager der Stadt..._

"HÖR AUF SO EINE DEPRI-SCHEIßE ZU HÖREN!" Meine Schwester Paulina saß neben mir, in der Hand hielt sie meine Kopfhörer, die sie mir gerade vom Kopf gerissen hatte. "Dann hör du damit auf, dich wie eine Vierjährige aufzuführen!" Sie verdrehte die Augen. "Ich habe doch losgelassen, und bloß, weil es dir nichts ausmacht, von hier wegzuziehen, heißt das nicht, dass es mir auch nichts ausmacht!" "Ach, lass mich einfach!" "Hört doch auf euch immer zu streiten." "Halt dein Maul, Sven!" Sven sah mich böse an, weshalb ich noch ein "Schwanzlutscher" hinzufügte. Er richtete seinen Blick auf den Boden und ging langsam und mit hängenden Schultern zum Auto seiner Mutter. "Lass ihn doch einmal! Er kann nichts dafür!" Paula regte sich wie immer darüber auf, dass ich Sven aufgrund seiner Sexualität niedermachte.

"Er ist ekelhaft, und ich lasse mir nichts von einem Rosetten Spreizer wie ihm sagen!" Sie verschränkte nur die Arme vor der Brust und starrte nach draußen, wo mein Vater gerade die Haustür hinter sich schloss. "So Leute, auf in unser neues Leben!" Silvie, Svens Mutter, klatschte ebenso wie er und mein Vater, während ich und meine Schwester nur grummelte. Wir hatten nichts gesagt, als Dad eine neue Frau geheiratet hat, wir hatten nichts gesagt, als er uns ihren Sohn vorgestellt hat und genauso würden wir jetzt, als wir wegen Silvies neuem Jobangebot umziehen würden, nichts sagen. Ich hoffte einfach, dass ich an meiner neuen Schule in Ruhe gelassen werden würde und sich die Leute so wenig wie möglich mit mir beschäftigen werden. "Seid ihr bereit, meine Süßen?" Dad hatte sich zu uns ins Auto gesetzt und schaute durch den Rückspiegel zu uns. "Jaha!", geben wir beide gleichzeitig von uns. Manchmal merkte man schon, dass wir Zwillinge waren, aber manchmal zweifelte ich daran, ob wir überhaupt verwandt waren. Schon am Aussehen glichen wir uns in keinem einzigen Punkt.

Ihre Haare sind braun, meine schwarz.

Ihre Augen sind grün, meine grau.

Ihre Haut ist gebräunt, ich sah aus wie ein Schneemann.

Auch sonst waren wir nicht gleich, aber vor allem das mit der Haut störte mich. Ich richtete meinen Blick aus dem Fenster, an dem die Landschaft nur so vorbeiflog. Weil ich immer Angst davor hatte, von einem LKW eingeklemmt zu werden oder einem Geisterfahrer zu begegnen, hasste ich Autobahnen. Andererseits mochte ich lange Autofahrten, und diese hier würde lang werden, denn wir fuhren von Oberbayern an die Ostsee. Ich hatte also viel Zeit um meiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen:

Nachdenken.

Stunden später stieg ich aus dem Auto und das Erste, was ich tat, war, mich zu strecken. Ich hatte 14 Stunden durchgehend im Auto gesessen und war auch nicht an den Tankstellen ausgestiegen. Bis auf einmal, als Paulina mir keinen Kaffee mitnehmen wollte. Jetzt hatten meine Beine kaum noch genug Kraft um meinen Oberkörper zu tragen, und die Aussicht, die nächsten Tage auf einer Matratze auf dem Boden zu schlafen, machte es nicht gerade besser. Genervt stöhnte ich auf und zog somit die Blicke meiner Familie auf mich. Ich ging zu ihnen an die Haustür und wartete geduldig, bis Silvie die Tür aufgeschlossen hatte. „Willkommen in unserem neuen Zuhause!" Sie drehte sich in der großen Eingangshalle drei Mal im Kreis und ließ sich dann in die Arme meines Vaters fallen.

Dieser fing sie lachend auf und schien unendlich glücklich zu sein. Mir kam es allgemein so vor, als wäre er seit er Silvie kennengelernt hatte glücklicher und fröhlicher, fast so wie früher, als unsere Mutter noch lebte. Sie war sechs Jahre nach unserer Geburt an einem unerkannten Tumor gestorben und seit dieser Zeit war Dad ein anderer Mensch. Vor sechs Jahren allerdings lernte er Silvie kennen und eine sehr glückliche Zeit begann. Mein zehnjähriges Ich fand es toll, einen großen Bruder zu bekommen, der schon vierzehn war und ich wollte unbedingt so werden wie er. Wir unternahmen jeden Nachmittag etwas zusammen, wir gingen zum Fußballspielen oder Fahrradfahren. Er brachte mir Skateboard fahren bei und wir verbrachten unsere freie Zeit im Skatepark. Oft ging er mit mir ins Kino und egal wie kindlich oder schnulzig der Film auch war, er blieb die gesamte Vorstellung neben mir sitzen. Wenn ich krank war, kümmerte er sich um mich und wenn ich mich über etwas besonders freute, freute er sich mit mir. Später, als ich aufs Gymnasium kam, war er extrem stolz auf mich und wann immer er Zeit hatte, ging er mit mir meinen Stoff durch.

Er lernte mit mir Lateinvokabeln und war unglaublich geduldig. Wenn ich wieder eine Eins oder eine Zwei in einer Schulaufgabe hatte, ging er mit mir Eis essen oder schenkte mir eine Kleinigkeit. Als ich mich in ein Mädchen verliebte, gab er mir Tipps, wie ich mit ihr reden oder umgehen sollte. Er war mein bester Freund, Bruder und wie ein zweiter Vater zugleich. Durch ihn lernte ich neue Freunde kennen, durch ihn wurde ich genauso beliebt wie er. Er kannte jeden und so kannte jeder mich. Als ich gerade 13 geworden war, wurde er zum Schulsprecher gewählt und wie immer freute ich mich für ihn, obwohl ich auch ein bisschen neidisch war. Später machte er seinen Führerschein und fuhr mich überall hin, wo ich hinwollte. Auf Festivals, Konzerte und in den Ferien fuhren wir zusammen in den Urlaub. Sein Abi bestand er mit 1,0, obwohl er fast nichts lernte und diese Zeit lieber dazu nutzte, mit mir auf der Terrasse zu sitzen, Kraftklub zu hören und Shisha zu rauchen.

Ja, er erlaubte mir zu rauchen, aber unsere Eltern hatten ja auch nichts dagegen. Nach seinem Abschluss sperrte ich mich in meinem Zimmer ein und weinte stundenlang. Ich wusste von Klassenkameraden, dass die Abiturienten jetzt zum Studieren weggehen würden und für den vierzehnjährigen Max brach eine Welt zusammen. Ich wollte meinen Bruder nicht verlieren. Und obwohl alle seine Freunde zum Studieren nach München, Frankfurt oder Köln zogen, versprach Sven mir, zu warten, bis ich meinen Abschluss hatte und dann zusammen mit mir studieren zu gehen. Ich konnte es damals kaum fassen, dass er wegen mir vier ganze Jahre warten wollte. Während ich also vormittags in die Schule musste, fing er an für 1400€ im Monat vormittags in einem Büro zu arbeiten. Für mich ging also alles wie gewohnt weiter. Und dann kam der schlimmste Tag in meinem gesamten Leben.

(1109 Wörter)

Nicht Gerade EinfachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt