56. Das Weiß der Wände

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"Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Frau Haase den Unfall schwer verletzt überlebt hat. Anhand der schweren Verletzungen können wir nicht sagen, ob eventuelle Kurz- oder Langzeitfolgen auftreten. Ich wünsche Ihnen viel Glück.", beendete der Arzt seinen Bericht. Mir fiel gefühlt ein halber Gletscher von Herzen. Nora lebt. Sie lebt. Sichtlich erleichtert warf ich einen Blick zu Noras Eltern, die ähnlich erleichtert aussahen. Ich entschuldigte mich kurz und ging ein Stück den Flur herab. Ich wollte Erik und Alex anrufen. Sie sollten schließlich auch erfahren, was passiert war. Das Handy wählte die Nummer und ich hörte ein 'Hallo?' am andern Ende der Leitung, welches von Erik stammte. Ich redete sofort drauf los. "Erik, pass auf. Julian hier. Du musst sofort nach Bielefeld kommen. Nora ist im Krankenhaus. Sie hatte einen Unfall. Und sag Alex Bescheid!", rasselte ich alle Informationen herunter. 'Scheiße, Mann. Klar, ich komme vorbei. Ich bringe Alex mit. In welches Krankenhaus müssen wir denn?' Ich nannte ihm noch den Namen des Krankenhauses und machte mich dann wieder auf den Weg zurück zu Noras Eltern. Ich setzte mich wieder auf den weißen Stuhl und starrte die gegenüber liegende Wand an. Kurze Zeit später kam ein anderer Arzt aus dem Behandlungsraum auf uns zu. Er erklärte uns, dass Nora sich in einem lebendigen aber dennoch sehr kritischen Zustand befand. Prozentual gesehen, hatte er gesagt, ist die Chance, dass Nora am Leben bleibt viel wahrscheinlicher, als dass sie jetzt noch sterben würde. Der Arzt redete noch eine Weile in irgendeinem medizinischen Fachgesimpel. Dort schalte ich ab und betrachtete wieder die weiße Wand auf der anderen Seite des Flurs. Nora lebte. Das war das, was wirklich für mich zählte. Daran konnte keiner mehr irgendetwas ändern. Weder ein dämlicher Prozentsatz oder ein brabbelnder Arzt. Sie lebt. Das ist ein Fakt. Und gegen einen Fakt spricht man nichts aus.  Nach einiger Zeit konnte ich mir das Weiß der Wände nicht mehr ansehen und beschloss,  mir die Beine ein bisschen zu vertreten. Ich ging den Flur herunter, nachdem ich mich fürs Erste bei Noras Eltern verabschiedet hatte. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl zusammen mit einer älteren Dame in das Erdgeschoss. Ich ging in die Cafeteria und schaute mich dort ein bisschen um. Viel Auswahl gab es hier ja nicht. Ich drehte mich wieder um und setzte meinen Weg in die viel zu große Empfangshalle fort. So langsam aber sich müßten Erik und Alex doch auch ankommen. Ich wartete noch ein paar Minuten. Als ich mich schon wieder auf den Weg nach oben machen wollte, sah ich die beiden durch die Eingangstür treten. Ich hob kurz meine Hand, um ihnen zu signalisieren, dass ich auf sie gewartet hatte. Ich kamen mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck auf mich zu. Als sie bei mir ankamen, zogen mich beide in eine Umarmung. Ich löste mich. "Kommt, lass uns nach oben gehen. Die Ärzte haben gesagt, dass sie lebt. Vielleicht können wir ja zu ihr." Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben und ich führte sie zu dem Platz, auf dem ich vor einer halben Stunde noch gesessen hatte. Verwunderung machte sich auf meinem Gesicht breit. Noras Eltern waren weg. Aber wo? Ich hielt einen Arzt auf, der gerade an uns vorbeieilen wollte. "Entschuldigung, könnten Sie mir sagen, wo die Eltern von Nora Haase geblieben sind? Sind sie weggefahren? Ist etwas passiert?", fragte ich vorsichtig. "Die Eltern sind weggefahren, ja." Der Arzt machte eine kleine Kunstpause, als wüsste er nicht, wie er sich ausdrücken sollte.
"Hat man Ihnen denn nicht erzählt, dass Nora Haase vor ungefähr 25 Minuten an unvorhergesehenen inneren Blutungen verstorben ist?"

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