Kapitel 1 • Der Anfang

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>I'll find my way<

Da stand er. Stumm. Weinend. Vor meinem Grab. Eine Träne nach der anderen fand ihren Weg auf den Boden. Geradewegs auf mein Grab.

Die Blumen, die gerade noch in seiner starken Hand waren, fielen zu Boden, als er diese einfach öffnete.

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging. Er ging aus dem alten Tor des Friedhofes.

Er machte kaum Geräusche. Er war groß und muskulös, aber er war so ruhig. Und so leise. Er war immer so sanft zu mir.

Nur mein Grab war belebt. Der Rest wirkte verlassen.

Auf dem Weg zum Parkplatz verließen ihn immer mehr Tränen und er war wütend. Das sah man ihm an.

Ich liebte diesen Jungen doch so sehr, wieso hatte ich ihn so enttäuscht.

Ich ging neben ihm. Legte ihm eine Hand auf seine Schulter.

"Er wird es niemals spüren, nie wieder", dachte ich mir.

Meine Füße berührten den Boden nicht und trotzdem war er immer noch größer als ich. Zumindest machten mich meine Flügel breiter als ihn.

Ich schreckte hoch. War panisch. Sah an mir runter

Alles wie immer. Keine Flügel, ich berührte das Bett, alles war gut. Nichts war anders.

Ich sah auf meine kleine, leuchtende Digitaluhr auf meinem kleinen, schwarzen und verschnörkelten Nachttisch. Wir hatten genau 3:56 Uhr. Na toll.

Ich schmiss mich zurück in mein weiches Kissen.

Ich hatte gerade einen verdammt komischen Traum. Ich kannte die andere Person nicht und hatte doch so starke Gefühle für sie gehabt. Alles hatte gekribbelt. Es hatte sich so falsch angefühlt, dass er mich nicht bemerkt hatte.

Naja, war nur ein Traum. Doch trotzdem ließ mich die Tatsache, dass sich das so real angefühlt hatte, nicht ruhen. Immer wieder drehte ich mich, um die perfekte Schlafpoition zu finden. 

Noch nie hatte ich solche Gefühle für eine Person gehabt. Ich war schon mal verliebt gewesen, ich meine, mit 16 wäre es anders auch komisch, aber sowas hatte mein Körper noch nie durchgemacht.

Ob Junge oder Mädchen, nichts hatte mich bis jetzt so beeindruckt wie dieser Junge. Okay, Mädchen konnten mich generell nicht so beeindrucken, aber trotzdem. Und die Gefühle waren immer noch da, trotz dass der Traum schon längst in weite Ferne gerückt war.

Ich hatte mich gerade in jemanden verliebt, oder fand ihn interessant, der sehr wahrscheinlich nicht existierte und mein Gehirn wohlmöglich nur ausgedacht hatte. Das war ein ziemlich komisches Gefühl.

Als meine Gedanken endlich mal kurz eine kleine, angenehme Pause einlegten, war es schon 4:25 Uhr. Verdammt spät. Oder früh, wie mans nimmt. Das war mir aber egal, denn ich wollte einfach nur noch schlafen.

Also schloss ich die Augen und drehte mich in eine gemütliche Position. Dann sank ich langsam in den Schlaf, in der Hoffnung, diesen Jungen noch einmal zu sehen. Ohne Erfolg.

Ein schrilles Klingeln riss mich aus meinem traumlosen Schlaf. 6:30 Uhr. Aufstehen.

Ich schwang meine dünnen Beine aus dem Bett, betrachtete mich einmal kurz von oben bis unten im Spiegel gegenüber, der an meinem Kleiderschrank angebracht war.

Meine Blonden Haare, die schon wieder viel zu lang waren, standen in alle Richtungen ab und meine Augenringe hingen mir fast bis zu den Knien.

Ich hatte Augenringe schon immer, war mir vererbt worden, aber die gestörte Nacht hatte sie nicht besser gemacht. Schade.

Ich stand auf und stapfte missmutig zum Schrank und riss die Schranktür einfach unachtsam auf. Ich zog das erstbeste T-shirt aus dem Schrank und zog mir die Hose von gestern an. Die Kombi sah gar nicht mal so schlecht aus.

Ich schlurfte die Treppe runter und Löffelte ziemlich demotiviert meinen Joghurt. Er schmeckte einfach nur fade.

Genau so, wie mein Leben es war. Fade. Nichts passierte. Nichtmal Spinnen hatten wir im Haus.

Meine Schwester hatte Angst vor Spinnen jeglicher Größe. Selbst vor diesen winzig kleinen rannte sie schreiend davon. Mir machten Spinnen nichts aus, wenn sie nicht diese dicken, pelzigen Beine hatten.

Das hatte früher echt alles besser gemacht. Meine Schwester mit Spinnen abwerfen. Zusehen, wie sie kreischend davon rennt und sich später irgendwie an mir recht.

Aber wenn man weder eine Spinne, noch eine Schwester hatte, konnte man sie auch nicht abwerfen.

Meine Schwester war vor einigen Jahren auf ihrem Schulweg von einem LKW überrollt worden.

Dieser Fahrer hat mir ein Stück meines Lebens genommen. Aber am liebsten hätte ich den letzten Rest auch noch beendet, aber meine Mutter konnte ich nicht zurück lassen. Das hatte sie einfach nicht verdient.

Meinen Vater hatte sie an Leberkrebs verloren, ihre Eltern, wie ihren Bruder hatte ein Verrückter erschossen. Sie waren Zufalls Opfer. Wie viele andere. Viele adere, die es genauso wenig verdient hatten. Diese Welt ist nicht gerecht.

Ich war alles, was meiner Mutter geblieben war. Ich würde bleiben, bis sie ging. Das hatte ich mir nach dem Tod meiner Schwester vorgenommen.

Wir hatten eine unheimlich starke Bindung. Wir erzählten uns alles. Ich wusste, wen sie nicht mochte und welchen neuen Mann sie kennengelernt hatte. Sie fand jedoch niemanden, den sie Ansatzweise so sehr liebte, wie meinen Vater.

Wir waren eher wie beste Freunde. Nicht wie Mutter und Sohn.

Als der letzte Rest Joghurt nun auch runter geschluckt war, machte ich mich auf den Weg ins Bad.

Meine Haare konnte ich vergessen. Die würden heute nicht mehr das machen, was ich eigentlich für sie geplant hatte. Diese kleinen Spastis.

Es war gerade mal 7 Uhr und ich hatte keine Ahnung, was ich noch tun sollte. Mal wieder war ich viel zu früh aufgestanden.

Also schnappte ich mir mein Handy.

Eine neue Nachricht von meiner Mutter.

Mama 6:59  : >Hey Schatz! Wie gehts? Die Sitzung ist total langweilig. Wenn du nichts zu tun hast, kannst du ja mal anrufen. Dann hätte ich eine Ausrede, um mal den Raum zu verlassen. Hab dich lieb<

Ich hatte Zeit. Also rief ich sie an. Es tutete eine Zeit lang, aber sie ging ran.

"Hi, mein Kleiner. Danke, ich musste da echt mal raus.", begrüßte sie mich. "Da helf ich dir doch gerne.", antwortete ich und uns beiden entfuhr ein belustigter
Laut.

Wir redeten noch über dies und jenes, dann musste sie auflegen. Als ich auf die Uhr sah, merkte ich, dass ich los musste. In die Schule. Den grausamsten Ort, den ich kannte.

Liedzeile: - Never give up by Sia

*Ps: Song oben eingefügt*

Angels can fly • stexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt