Kapitel 44 • Wieder da

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>But in the end it doesn't even matter<

"Na, meine Lieblingspatienten sind ja wieder da.", schmunzelte Chris, als er uns in unserem Zimmer auf unseren Betten liegen sah. "Ja, sind wir, Lieblingspfleger.", grinste ich zurück.

"Ich komme um drei nochmal. Dann können wir deine Haare wieder anbringen." Mit diesen Worten verließ Chris das Zimmer nach einem kurzen Small talk wieder. Ich freute mich riesig, meine Haare wiederzubekommen. Es war tatsächlich ziemlich komisch gewesen ohne sie. "Weißt du, ich hab Angst. Angst, dass meine Haare schon ganz am Anfang der Chemo ausfallen." Mia starrte an die Decke. "Lass sie dir doch auch abrasieren und eine Perücke daraus machen." "Meine Mutter hat auch gesagt, ich soll das auf jeden Fall machen. Sie meinte, sie wüsste, wie das wäre und dass meine Haare einfach zu mir gehören. Aber das ist doch alles dann nur fake. Ich kann nicht mehr. Alle meinen zu wissen, was das beste ist. Nein, nicht alle. Meine Eltern. Sie denken, sie wüssten, was in meinem Kopf vor sich geht. Weißt du, sie sind einfach weggezogen, als ich mein Gedächnis verloren hatte. Ohne zu warten, ob meine Erinnerungen wiederkommen. Meine Psychologin hatte gesagt, dass es ohne bekannte Eindrücke schwer werden würde. Ich hätte meine Erinnerungen eigentlich nach einiger Zeit von ganz alleine in einer bekannten Umgebung zurück bekommen. Sie haben mich einfach so zuerst beim Handball angemeldet, weil sie dachten, ich könnte ja was anderes als Turnen probieren, weil ich das nicht gemacht hätte, wenn ich mich ans Turnen hätte erinnern können. Aber ich habe zuhause den Ball nicht beachtet und geturnt und mich gewundert, warum ich das alles so hinbekomme, als hätte ich es gelernt. Dann haben sie mich wieder beim Turnen angemeldet, aber das fand ich ziemlich kacke. Also, nicht dass ich wieder turnen konnte, sondern dass sie mich einfach so woanders angemeldet hatten. Weil sie dachten, es wäre besser für mich. Immer wieder kam sowas. Sie hatten auch nie bemerkt, dass ich lüge. Ich habe mich täglich in den Schlaf geweint. Ich habe auch eine Zeit lang sehr wenig gegessen. Immer wieder gesagt, ich hätte gerade etwas gegessen. Ich wurde immer ruhiger. In der Schule beachtete mich niemand und irgendwann, als sie merkten, dass ich mich nicht wehrte, begannen sie mich zu mobben. Zuerst nur verbal. Aber irgendwann hatten sie angefangen, mich zu schlagen, auf mich einzutreten und alles mögliche. Meine Eltern haben es nicht gemerkt. Sie haben die ganzen Blutergüsse und Schürfwunden nicht bemerkt. Ich war kurz davor, mich umzubringen. Ich habe bis jetzt immer einen Abschiedsbrief dabei. Egal, durch welche Ursache ich sterbe, ich will mich verabschieden. Aber damals, als ich dann auch noch die Diagnose Krebs bekam, ich wollte mich gleich nach dem Termin umbringen, hatte ich währenddessen beschlossen. Als uns dann aber die Klinik hier empfohlen wurde, in meiner alten Heimat, hatte ich Hoffnung geschöpft. Hoffnung darauf, dass hier jemand auf mich wartet, der mich mag. Stegi, ich habe auf dich gehofft. Gehofft, dass du noch lebst, dass du dich nicht verändert hast und dass du mich noch so magst, wie früher. Du hast mir sozusagen das Leben gerettet. Oder der Krebs, wie mans nimmt." Uns beiden liefen mittlerweile die Tränen runter und wir lagen heulend in unserem Zimmer. "Mia?" "Ja?" "Wenn ich nicht mehr bin, versprich mir, dass du weiter machst." Uns stiegen neue Tränen in die Augen. "Du schaffst das, Stegi." Sie klang nicht überzeugt, aber ich wollte ihr die Hoffnung nicht verbieten. Also nickte ich nur.

"Tim!" Ich sprang aus meinem Bett, als er zwanzig Minuten früher als erwartet durch die Zimmertür lief. Stürmisch umarmte ich ihn und drückte ihm einen schnellen Kuss auf. "Ich bekomme gleich meine Haare wieder.", erzählte ich ihm stürmisch. Mein ganzer Körper kribbelte. "Na wird auch mal Zeit. Dann kann ich mich wieder mit dir sehen lassen.", scherzte Tim grinsend.

"Hat Reinhardt sich eigentlich gefreut?", fragte Tim neugierig. "Ja, er ist in Tränen ausgebrochen und hat versprochen, uns irgendwie zu danken. Er wollte auch mal bei uns reinschauen.", erzählte Mia. Es war tatsächlich sehr schön gewesen. Aber wir konnten nicht lange bleiben, wir mussten ja hierher kommen. "Er scheint echt nett zu sein." Tim bestätigte das offensichtliche.

"Na Stegi? Willst du vielleicht etwas wiederhaben?", fragte Chris fröhlich und mir war sofort klar, was ich zurückbekommen würde. "Sehr gerne.", gab ich zurück.

Es hatte nicht lange gedauert, mir zu erklären, wie ich meine Perücke aufziehen und befestigen musste und ich hatte endlich meine Haare wieder. Sie waren um einiges kürzer und gingen mir knapp über die Ohren, aber es stand mir um Welten besser, als meine Haare, die kurz vor den Schultern aufhörten. Warum ich das nicht früher gemacht hatte, war mir ein Rätsel. Aber andersrum hätte ich die Perücke sonst nicht. Also hatte es doch seine guten Seiten. "Das steht dir verdammt gut, Stegi.", kommentierte Tim mein neues Aussehen. "Aber du siehst es immer gut aus." Bei diesen Worten zuckte er mit den Schultern. "Läuft da was?", fragte Chris, der immer noch hier stand, ein wenig verwirrt. Ich spürte, wie meine Wangen sich rosa färbten. Ich sah Mia, die heftig nickte. "Sagt man bei sowas herzlichen Glückwunsch?" "Nein, Chris, ich glaube nicht.", kam es von Mia. "Ich lass euch zwei Turteltauben mal alleine. Und dich auch, Mia." Er verließ das Zimmer.

"Ich genieße die Sommerferien richtig" schwärmte Tim. Er hatte schon Sommerferien. Ich wollte doch auch so gerne. Ich wollte Sommerferien. Schon zwei Wochen hatte er frei. Und ich? Durfte hier sitzen. Nichts tun. Einfach hier sein. Und nichts tun. Es fühlte sich falsch an. "Und ich sitze hier rum und kann das nicht genießen.", gab ich bissig zurück. "Och Stegi." Er sah mich mitleidig an. "Ich würde das doch gerne ändern. Aber ich kann das nicht. Lass mir doch auch mal ein wenig Freude am Leben." Ich konnte ihm einfach nicht böse sein. Und ja, ich wollte ihm auch mal Freizeit und Freude gönnen. Er sollte sich freuen, das Leben genießen. Ich konnte es ja nicht mehr richtig genießen.


Liedzeile: -In the End by Linkin Park-

*Ps: song oben eingefügt*

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