Kapitel 33 • Verluste

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>And you see me holding up my middlefinger to the world<

Nun saß ich hier, in meinem Zimmer. An einem Montag Nachmittag und um mich herum saßen Mia, Tim und meine Mutter, die sich entschuldigt hatte, dass sie so lange nicht bei mir war, aber sie war nur auf den Beinen gewesen und spät Abends ins Bett gefallen. Natürlich hatte ich das verstanden und war keines Wegs sauer. Das war auch früher oft so gewesen. Manchmal hatten wir uns mehrere Tage lang nur kurz gesehen. Außerdem stand Chris hinter mir. Mit dem Rasierer in der Hand.

Meine Haare waren auf meinem Kopf zu einem komischen Zopf gebunden und warteten nur daruf, von meiner Kopfhaut getrennt zu werden. "Schneid' bitte so nah wie möglich an der Kopfhaut ab! Ich will schon ein paar Zentimeter Haare an der Perücke haben.", warnte ich Chris und er lachte nur leicht auf. Ich vertraute einfach mal darauf, dass er es nicht versaute und man tatsächlich aus meinen Haaren eine einigermaßen vernünfige Perücke machen konnte.

"Na dann mal los!", sagte Chris und klang ein wenig überenthusiastisch. Das machte mir ein wenig Angst. Als er dann den elektrischen Rasierer anschaltete, schloss ich enfach meine Augen, in der Hoffnung, dass alles dann erträglicher wäre.

Er setzte den vibrierenden Rasierer an meiner Kopfhaut an und ich spürte, wie an den Stellen augenblicklich das leichte ziehen, das vom Zopf her rührte, aufhörte. (War ja auch irgendwie logisch). Nach einer kurzen Zeit war alles vorrüber und Chris hielt mir meinen abgeschnittenen Zopf vor die Nase.

Ich hatte echt verdammt viele, dicke und lange Haare gehabt. Sie waren mir bis ganz knapp über die Schultern gegangen. Und damit meinte ich, dass sie kurz vor den Schultern aufhörten und nicht, dass sie bis über die Schultern gingen. Aber damit war jetzt wohl Schluss. Vielleicht tat mir die Veränderung ja auch gut. Wer weiß.

"Willst du noch so ein komisches Haarentfernungsmittel, um die Stoppeln weg zu machen oder sollen die natürich ausfallen?", fragte meine Mutter mich mit einem liebevollen Blick. "Ich will erstmal schauen, wie ich aussehe!", beschloss ich und starkste ins Badezimmer. Vor dem Spiegel lehnte ich mich etwas in die Richtung von diesem, um mir meine neue 'Frisur' genauer anzuschauen.

"Ich nehm' definitiv die erste Option!", rief ich meiner Mutter zu und bekam ein "Hatte ich mir gedacht!" zurück. Ich grinste. Sie kannte mich in und auswenig. Ich konnte ihr nie etwas verheimlichen und sie mir genauso wenig.

"Komm zurück, ich will dich nochmal begutachten!", rief Tim mir zu und betonte das letzte Wort ziemlich übertrieben. Ich lächelte und beendete meinen Badezimmeraufenthalt.

"Komm doch mal näher.", beschwerte sich Tim, denn ich war im Türrahmen stehen geblieben. Plötzlich hatten mich Zweifel gepackt.

Was, wenn er mich nun komisch fände oder wenn er nichts mehr mit mir zutun haben wollte? Bei Mia wusste ich, dass ihr das nichts ausmachen würde, denn sie wäre ihre Haare auch bald los. Aber Tim? Dann wurde mir klar, dass es ihm egal war und schüttelte lächelnd meinen Kopf und ging näher zu ihm.

"Also, ohne die Stoppeln könnte ich mich echt 'dran gewöhnen." Ich war erleichtert.

"Chrisibisi, kannst du das nicht auch bei mir machen?", fragte Mia nun. Chrisibisi? War das ihr Ernst? Der Krankenpfleger war auch ziemlich verdutzt. "Aber nur, wenn du mich nie wieder 'Chrisibisi' nennst! Sonst mach ich weiß Gott was mit deinen Haaren!", tadelte er sie streng. "Okay, Chris.", gab Mia belustigt und bemüht ernst zurück. "Geht doch." Chris stieß einen leisen, zufriedenen Seufzer aus und befahl meiner Zimmergenossin, sich eine Assipalme zu machen. Gesagt getan. Es sah zum schreien komisch aus, wie sie da saß.

Chris schmiss das Gerät, dass sich Rasierer schimpfte, an und wollte gerade ansetzten. Doch Mia zuckte zurück. Alle sahen sie verdattert an. Ihr stiegen Tränen in die Augen und sie stand ruckartig auf. Bevor sie aus dem Zimmer stürmen konnte, fing ich sie ab und drückte sie fest an mich.  Den anderen bedeutete ich, mal kurz den Raum zu verlassen und sie schlossen die Tür so leise wie möglich hinter sich.

"Ich will das nicht! Stegi, meine Haare sind ich! Ohne sie, bin ich nicht mehr das, was ich bin!" Ihre Tränen durchnässten meine Schulter und es musste verdmmt affig aussehen, wie eine großes, relativ muskulöses Mädchen in den Armen eines kleinen, knochigen Jungen lag und weinte. Aber das war mir in diesem Moment so ziemlich scheiß egal. Sie war so enthusiastisch gewesen, ihre Haar-Sache auch zu regeln. Aber sie schien nicht darüber nachgedacht zu haben.

Ich dirigierte uns zum Bett und wir ließen uns darauf fallen. Ihre Tränen, sowie ihr Schluchzen wollte nicht aufhören. "Du bist immer du. Egal, ob du deinen Bauernzopf nun trägst oder nicht. Und deine Haare werden, im Gegensatz zu meinen, wieder kommen und in einem, vielleicht andertalb Jahren kannst du dir wieder einen Bauernzopf flechten.", versuchte ich sie zu beruhigen. Sie nickte nur und versuchte sichtlich etwas runterzukommen und ihre Atmung zu normalisieren.

Keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber irgendwann löste sie sich vorsichtig von mir und lächete mich schwach, aber dankbar, an. Ich lächelte zurück. "Mia, hat dir schonmal jemand gesagt, dass du wunderschön bist?", fragte ich und sie nickte verlegen. "Die Person hatte so verdammt recht. Du bist das schönste Mädchen, dass ich je gesehen habe.", behauptete ich. Und es war wahr. "Das sagst du nur, um mich aufzumuntern.", sie schaute verlegen auf den Boden und drehte leicht ihre Schultern von links nach rechts und wieder zurück. Außerdem spielte sie beschämt mit ihren Fingern. "Stimmt, ich sage es dir, um dich aufzumuntern. Es passte einfach gerade. Aber es ist die Wahrheit und wir können nach draußen gehen und die ganzen kleinen Kinder fragen und sie werden es mir bestätigen." Sie sah mich empört an. "Wieso nur die kleinen Kinder?" "Weil kleine Kinder einfach ehrlich sind. Sie  sagen die Wahrheit, ohne lange drüber nachzudenken. Wenn ich zwei Personen hinstellen würde und ein dreijähriges Kind fragen würde, welche der zwei es schöner fände, würde es ehrlich sein und auf die Person zeigen, die es hübscher fiände. Eine bessere Jury könntest du nie haben.", klärte ich sie auf. Sie sah noch skeptisch aus und ich beschloss, meine Idee morgen in die Tat umzusetzten. Im Park oder so waren sicherlich viele Eltern mit ihren Kindern.

"Hol mal die anderen wieder zu uns. Es ist so leer.", befahl Mia und ich schrieb Tim eine Nachricht, dass sie wieder zu uns kommen könnten. Er hatte mir vorher geschrieben, dass sie in der Kantine waren und sich dort hingesetzt hatten.

Keine zwei Minuten später wurde unsere Zimmertür schwungvoll aufgestoßen und ein gut gelaunter Tim kam zu uns ins Zimmer. "Na was hat der denn?", flüsterte Mia mir ins Ohr. Ich zuckte nur die Schultern. "Ich hab euch gehört!" Tim sah lustig aus, als er versuchte, sauer zu wirken aber tatsächlich viel zu glücklich dazu war. "Aber um deine Frage zu beantworten", er warf Mia einen gespielt hochnäsigen Blick zu. (zugegeben, den hatte er echt drauf), "mein kleiner Bruder, Max, hat seine erste Eins in Latein geschrieben. Nachdem ICH, Tim Renk, mit ihm gelernt habe!" Er war selbst wohl ganz verblüfft von sich und seinem Bruder.

"Aber in der sechsten Klasse ist das doch alles nicht schwer.", warf ich ein und erntete einen bösen Blick von Tim. "Aber ich hab es ihm wohl gut erklärt. Du kennst mich, Stegi." Ich musste auflachen. "Ich finde, du bist mehr der Französisch-Typ.", warf Mia ein. "Das denke ich seit der sechsten Klasse auch.", gab Tim zu und Mia fing an zu kichern.

Ihre Ängste, wegen ihren Haaren, waren wie weggeblasen.

Liedzeile: -Pretty Girl by Maggie Lindemann-

Ps* Song oben eingefügt.*

Angels can fly • stexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt