Kapitel 32 • Zuckersüß

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>Come on, come on, turn the radio on<

Ich ließ die Tränen laufen, gab aber keinen Laut von mir. Mittlerweile saß Tim auf meinem Bett und ich, meine Beine immer noch um seine Hüfte geschlungen, auf seinem Schoß. Wieso konnte nur er das? Mich so beruhigen? Nicht mal meine Mutter war so gut. Und wieso musste er das jetzt tun? Wieso konnte ich das nicht selbst? Wieso konnte ich nicht einmal meine Gedanken abschalten?

Ich hatte mich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wieder beruhigt und lag, angekuschelt an Tim, in meinem Bett.

Wie Tim hier her gekommen war? Ich wusste es nicht. Aber ich war so glücklich darüber.

"Danke, Mia!", murmelte ich, kurz bevor ich ins Land der Träume abdriftete. Das "Kein Problem, aber du denkst nicht etwa, dass ich nicht merken würde, wenn du weinst?", bekam ich kaum noch mit. Ich rückte nur noch meinen Kopf auf Tims muskulöser Brust zurecht und das Land der Träume nahm mich auf.

Am nächsten Morgen, wusste ich nicht, was ich geträumt hatte. Nur, dass es schön war und ich am liebsten weiter geträumt hätte.

Ich lag genau so, wie ich eingeschlafen war. Außer, dass Tim schlief, war es wirklich fast identisch. Ich blieb so liegen. Wozu aufstehen? Es war Sonntag und für mich war Sonntag der Inbegriff von Ruhe, ausschlafen und ausschlafen lassen. Folglich also ließ ich Tim ebenfalls ausschlafen. Außerdem gab es heute das Frühstück erst um zehn Uhr und ich war, ehrlich gesagt, ziemlich froh darüber, ausschlafen zu können.

Es war zwölf Minuten vor Zehn oder auch eine fünftelstunde vor zehn. Ich mochte den Begriff 'fünftelstunde'. Warum auch immer. Tim regte sich gerade und Mia lag schon die ganze Zeit, in der ich wach war, ebenfalls wach und las. Sie las nun zum dritten, fucking dritten Mal, die Panem-Triologie. Keine Frage, das waren mit die besten Bücher auf diesem Planeten, aber nach dem zweiten Mal wurd es immer noch nicht langweilig, aber in dieser Zeit hätte man etliche andere Bücher lesen können. Es war keine verschwendete Zeit, zumindest in meinen Augen. Ich verstand sie. Aber ich würde es niemals machen.

"Stegi! In einer Minute kommt Linda! Wenn sie Tim nicht entdecken soll, sollte er schnell in den Schrank." Sie wirkte dezent panisch und ich fing leise an zu lachen. "Die Besuchszeit ist ab neun Uhr, er darf hier sein.", erklärte ich ihr. "Jaja. Aber er schläft. Und ich denke, dass wäre ein wenig auffällig, oder?" Sie zog eine Augenbraue hoch. Etwas, dass ich nie können werde. Bei mir entweder beide, oder keine. Wie auch immer. Sie hatte recht. Und vor allem waren seine Haare ziemlich durcheinander. Ich weckte Tim auf und schilderte ihm die Situation. Er versuchte -vergebens- seine Frisur zu richten und ich half ihm ein wenig. Sah nur so semi-gut aus aber immer noch besser als vorher.

Um zwei nach zehn trudelte Linda mit unserem Frühstück ein. Eine Schale voller Obst und ein, mit Nutella bestrichenes, Brötchen. Ich konnte es kaum abwarten, dass Linda verschwindet denn im Nutella essen war ich, nach Mia, das größte Ferkel. Mir hing nicht überall Nutella, so wie Mia, aber mein Mund war doch schon sehr gerne mal verschmiert. Also wartete ich, bis die nette Krankenschwester das Zimmer verließ und machte mich, wie Mia, über mein Brötchen her. Vorher hatte ich die Bananen- und Erdbeerstückchen auf der Nutella platziert. Ich liebte den Geschmack von Nutella und Früchten. Es war fast wie Schokofondue auf Brötchen. Und ich liebte Schokofondue so abartig. Es war einfach nur geil.

"Na da freut sich aber einer!", lachte Tim und ich streckte ihm nur die Zunge raus. Er nahm sich einfach eine große Erdbeere. "Gib mir das wieder! Ich brauchte meine Nährstoffe!" , meckerte ich. Er klemmte sich die Erdbeere zwischen die Zähne. "Komm doch und hol sie dir!" Er sah mich übertrieben anzüglich an und hob seine linke Augenbraue. Wie konnte man zur Höle nur eine Augenbraue heben? Ich überlegte, ob ich es machen sollte, oder nicht, rang innerlich ziemlich stark mit mir. Ja  oder nein? Ja oder nein? Ich hatte mich entschieden.

Ich stand auf, zog ihn an den Schultern zu mir runter und zog die Lippen, soweit es möglich war, zurück und berührte nichts, außer die Erdbeere mit den Zähnen. Soweit ich sie hatte, ließ Tim sie los und gab ein "Naww" von sich. Ich lachte und schluckte die Erdbeere runter. Danach ließ ich mich wieder in mein Bett fallen. Es war schon affig gewesen aber irgendwie fand ich es nicht schlimm. Ob es jetzt daran lag, dass ich bei sowas - unter engen Freunden versteht sich - ziemlich ohne Hemmungen war, weil ich schwul war und es -zumindest etwas- anziehend fand, oder ob da tatsächich was war. Ich tippte -und hoffte- auf Option eins oder zwei. Obwohl zwei und drei nahezu das selbe waren. Aber darüber sollte ich mir in dem Moment keine Gedanken machen.

"Ich hab noch Hausaufgaben bis Dienstag auf!" Tim stöhnte genervt auf. "Ich bin ab nächster Woche Mittwoch in der Aplesie. Und zuhause. Wenn du willst, kannst du vorbei kommen und wir machen dann andere Hausaufgaben zusammen. Außer duschen und händewaschen werde ich eh nicht viel machen können." Es war schon dezent scheiße, wenn man wusste, man war eingesperrt.

"Klar. Und wenn du aus diese Anda-irgendwas raus bist, kannst du ja mal zu mir kommen." Ich freute mich insgeheim, mal bei Tim zuhause zu sein. "Aplesie. Und ja, sehr gerne. Aber ich hab keine Ahnung, ob ich überhaupt noch in die Schule muss." Beim letzten Satz wurde mein Gesichtsausdruck immer zerknirschter. War ja auch verständlich. Ich hatte mich schon längst abgeschrieben. "Ganz ehrlich, du bist mir viel zu negativ. Schau mal, selbst deine Haare sind noch dran!" Danke, streu noch Salz in die Wunde und drück drauf! Ich war mir bewusst, dass meine Haare noch dran waren und ich war auch ziemlich froh darüber, allerdings würde ich sie nicht mehr lange behalten. Tim bemerkte wohl, dass er was falsches gesagt hatte. "Und wie wäre es, wenn du dir aus deinen Haaren eine Perücke machen lässt? Man kann ja Haare spenden und du könntest dir doch selbst welche spenden. Lang genug sind die bestimmt." Das war tatsächlich aufmunternd und ich nahm mir vor, Linda nachher zu fragen.

"Stegi, ich würde dich gerne zur Bestrahlung abholen!" Linda steckte ihren Kopf durch die Tür und störte uns mitten in einer Runde W. Das war wie WoP (Wahrheit oder Pflicht) nur halt ohne Pflicht. Also, Wahrheit. W.

Ich setzte mich in den Rollstuhl. Warum ich das immer machen musste, war mir noch nicht ganz klar, aber solange ich nicht laufen musste, war es mir recht. Auf dem Weg zum Strahlenraum -wie ich ihn gerne nannte- fragte ich Linda, ob das möglich wäre. "Ja, schon. Aber dann sollten wir dir so schnell wie möglich die Haare abrasieren und ein- bis zwei Wochen später wären deine Haare wieder da. Allerdings ein paar Zentimeter kürzer." Ich befand ihre Antwort für gut und wir einigten uns darauf, es direkt nach der Bestrahlung zu machen.


Liedzeile: -Cheap Thrills by Sia-

*Ps: Song oben eingefügt*




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