Kapitel 19 • Schon wieder

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>Cause you look greatest when you look like a damn queen<

Da stand er. Stumm. Weinen. Vor meinem Grab. Eine Träne nach der anderen fand ihren Weg auf den Boden. Gerade Wegs auf mein Grab.

Die Blumen, die gerade noch in seiner starken Hand waren, fielen zu Boden, als er diese einfach öffnete.

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging. Er ging aus dem alten Tor des Friedhofes.

Er machte kaum Geräusche. Er war groß und muskolös aber er war so ruhig. Und so leise. Er war immer so sanft zu mir.

Nur mein Grab war belebt. Der Rest wirkte verlassen.

Auf dem Weg zum Parkplatz verließen ihn immer mehr Tränen und er war wütend. Das sah man ihm an.

Ich liebte diesen Jungen doch so sehr, wieso hatte ich ihn so enttäuscht.

Ich ging neben ihm. Legte ihm eine Hand auf seine Schulter.

"Er wird es niemals spüren, nie wieder", dachte ich mir.

Meine Füße berührten den Boden nicht und trotzdem war er immer noch größer als ich. Zumindest machten mich meine Flügel breiter als ihn.

Ich schreckte hoch. Und schon wieder diese Scheiße! Ich schwor mir, Tim während der Chemo drauf anzusprechen.

Ich schaute auf den Wecker. Drei Uhr fünfundvierzig. Wie letztes mal. Das war der Brainfuck hoch vierzehn. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es machte einfach keinen Sinn.

Ich schlief wieder ein. Aber erst, nachdem meine Gedanken aufgehört hatten zu schreien. Ja, meine Gedanken schrien mich fast an. Wie weinende Babys. Jeder einzelne Gedanke brauchte Aufmerksamkeit und es ließ höllische Kopfschmerzen entstehen. Und erst wenn alle Babys zufrieden waren, dann ließen sie mich schlafen, mich ruhen. Ich hatte meine Ruhe von meinen Gedaken.

Ich wurde um acht Uhr von Melissa geweckt, die mir mein Frühstück auf den Nachttisch stellte. "Morgen, Stegi. Bist du aufgeregt?", fragte sie mit ihrer weichen Stimme.

Ich nickte und schüttelte gelichzeitig den Kopf und musste lachen.

Heute gab es für mich Müsli zum Frühstück. Bestimmt war es so ein super gesundes Biozweug, aber es schmeckte. Und das reichte mir an diesem Morgen.

"Ich bin ein bisschen aufgeregt. Ich will mir nicht die Seele aus dem Leib kotzen, ich hasse das." Ich konnte es nicht habe, wenn ich mich übergab. Ich kämpfte immer dagegen an, weil ich es ekelhaft und unangenehm fand.

"Damit musst du dich abfinden, wenn die Übelkeitsdämmer nicht wirken.. Wir haben hier an der Wand so schöne 'Kotzbeutel'. Die können dir dann Tim und deine Mutter angeben." Sie musste schmunzeln und mir war klar, dass ich kotzen werde bis zum geht nicht mehr. Denn wie gesagt, Glück kannte ich nicht. Sowas hatten andere, aber ich nicht.

Ich musste heute keine Schule mitmachen und vertrieb mir die Zeit mit lesen. Und Musik hören. Musik half immer. Musik machte die schönsten Momente noch schöner und in den traurigsten wurde man von ihr verstanden.

"She can fuck you good, but I can fuck you better.", sang ich leise mit und hoffte inständig, dass das niemand gehört hatte. Zum Glück war dies nicht der Fall. Das wäre nämlich echt unangenehm und peinlich gewesen.

Ich ging mit meinen Augen auf die Suche nach den von Melissa angesprochenen 'Kotzbeuteln'.

Ich sah eine kleine halterung an der Wand, aus der viele, ineinander gehängte, circa zwanzig Zentimeter lange und zehn Zentimeter breite Plastikbeutel hingen.

Sie hatten oben einen Plastikring, um der Tüte stabilität zu geben und den Beutel stabil zu machen, damit nichts daneben ging. Ich nahm mir vor zu zählen, wie viele heute gebraucht werden würden.

Um drei Uhr kam dann der Anruf, der mich traurig machte. Meine Mutter musste heute noch auf eine unangekündigte Konferenz. Ich fing an, ihren Chef zu hassen. Und jetzt musste Tim mich auch noch ganz aleine so ertragen. Kotzend, am Ende und, wohl oder übel, heulend.Ich kannte mich doch. Ich war erbärmlich. Unmännlich. Zu sensibel. Zu nah am Wasser gebaut. Und all das mochte ich, aber auf der anderen Seite hasste ich es.

Tim wollte um halb vier kommen und er kam auf die Minute genau. Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der so pünktlich war wie Tim.

"Na, wie gehts dir? Was ist los?", fragte er ruhig.

"Meine Mutter kann nicht. Du musst wohl oder übel die ganze Zeit hier bleiben. Sonst pack ich das hier nicht.", sagte ich traurig.Und vieleicht auch etwas beschämt. Beschämt darüber, dass ich nach Hilfe bettelte, dass ich nicht so eine verdammte Chemotherapie über mich ergehen lassen konnte ohne jemanden.

Sofort setzte er sich auf den Bettrand und strich mir sanft über meinen Unterschenkel, der unter der Bettdecke lag.

Er gab mir Halt. Er war da. Und er war freiwillig hier. Niemand zwang ihn. Und ich hoffte, dass er sich nicht von mir gezwungen fühlte.

Um kurz vor Vier wurde Tim rausgebeten und kam bekleidet mit einem Mundschutz, einem grünen Kittel und desinfizierten Händen (ich liebte diesen Geruch) in mein Zimmer zurück.

Dicht gefolgt von Melissa, die die Infusion mit den ganzen Geräten dran, die vor sich hin blinkten, hineinschob.

"Es kann sein, dass du gar nichts spürst oder, dass du alles mitkriegst und es die Hölle wird." Na danke, das hatte mir echt Mut gemacht! Ich war jetzt nur noch verunsichterter, was diese verschissene Infusion anging.

Kurz darauf kam Doktor Blühmer und fragte mich nach meinem Befinden und allem anderen, was er halt für die Akten auf seinem blauen Kemmbrett benötigte.

Dann nickte er Melissa zu und sie schloss die Infusion an meinem Port an. Ich versuchte, meinen Puls zu beruhigen.

Augen zu und durch!


Liedzeile : -most girls by  Hailee Steinfeld-

*Ps: Song oben eingefügt*

Angels can fly • stexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt