Kapitel 45 • Zyklus die zweite

402 35 8
                                    

>Would you lie with me and just forget the world?<

Mein letzter Zyklus war genauso kacke verlaufen, wie mein erster. Ich habe nur gekotzt und Tim saß immer neben mir. Er war da und hatte mich unterstüzt. Ich wollte an manchen Punkten tatsächlich aufgeben. Ich wollte einfach abbrechen. Aber er hatte mir gesagt, dass er das nicht zulassen würde. Er hatte meine Hand genommen und gesagt, dass er, wenn er könnte, das alles für mich machen würde. Er hatte mir gezeigt, wofür ich kämpfen musste. Für ihn. Für Mia. Und für meine Mutter.

Tobi und Rafi waren am Donnerstag vorbei gekommen. Wir hatten viel gelacht und hatten unseren Spaß. Ich wusste zwar, dass die beiden sich kannten und sehr gut befreundet waren, aber ich wusste tatsächlich nicht, dass sie beste Freunde waren. Sie waren wohl früher in der selben Klasse. Zufälle gibt es. Obwohl, nein. Zufälle, mehr oder weniger. Ich glaubte daran, dass jeder Schritt geplant war. Du stehst vor der Wahl. Vanille oder Schokolade. Du denkst darüber nach und wählst Schokolade. Aber so war es vorgesehen. Du wusstest es nicht und hattes angeblich eine Wahl, aber es war klar, dass du Schokolade nehmen würdest. Tim sah das anders. Er war sich sicher, dass jeder Schritt etwas bewirkt. Hättest du Vanille genommen, hättest du vielleicht eine andere Person kennengelernt. Er glaubte, dass kleine Dinge alles beeinflussen. Ich war davon überzeugt, dass alles seinen Sinn hat und nicht anders passieren kann. Dass es so sein muss, auch wenn es scheint, als könnte es anders sein.

Auch Reinhardt war da. Er kam Freitag, an meinem Ruhetag. Er setzte sich neben Mias Bett. Er bedankte sich nochmals für die Lieder. Er konnte damit gar nicht aufhören. Wir sprachen ihn, wenn auch vorsichtig, darauf an, warum er auf der Straße gelandet sei. "Oh, ja. Meine Frau, sie ist vor sechs Jahren an Brustkrebs verstorben. Danach bin ich in ein Loch gefallen. Bekam Depressionen und trank. Trank zu viel. Zu oft. Ich verlor mein Geld bei Glücksspielen und letzten Endes auch meinen Job. Mein Haus haben sie mir auch genommen. Und dann blieb mir nur noch Emely. Unser Hund. Aber sie hat ihre besten Tage auch schon hinter sich. Ich werde ohne sie sehr einsam sein." Er musste ab und zu kurz stoppen, um sich eine Träne aus den Augen zu wischen. "Als was hast du denn gearbeitet?", hakte Mia nach. "Ich bin ein gelernter Elektriker.", antwortete er. "Glaubst du, du kannst das immer noch?", fragt Tim urplötzlich aus dem Hintergrund. "Das ist wie Fahrradfahren. Ich muss mich sicherlich kurz reinfinden, aber ja, ich denke, ich kann es noch.", antwortet Reini und man konnte die Verwunderung förmlich riechen. "Es ist so, bei meinem Vater in der Firma brauchen die dringend einen guten Elektriker. Für irgendwelche Anschlüsse. Ich könnte fragen, ob noch Bedarf besteht und dann könntest du es versuchen." Reinhardts Augen weden größer und größer. "Ihr seid das beste, dass mir seit dem Tod meiner Frau passiert ist. Danke!"

Am nächsten Tag brachte Tim eine gute Nachricht mit. Der Elektriker wurde tatsächlich noch benötigt und wenn er seine Arbeit gut machen würde, könnte er sogar eine feste Stelle in der Firma bekommen. Reinhardt hatte sich Tim um den Hals geworfen. Es ging endlich wieder bergauf und er hatte wieder eine Chance, auf ein normales Leben.

"Glaubst du, du wirst nochmal heiraten oder wenigstens eine Freundin haben?", fragte Mia dann im nächsten Gespräch. "Die einzige Frau, die ich je geliebt habe und die ich je lieben werde, ist meine Magret. Ich will gar keine andere. Ich könnte mir Abende vor dem Kamin mit niemand anderem vorstellen als mit ihr. Bei unserer Hochzeit haben wir uns die Liebe geschworen, bis der Tod uns scheidet, aber insgeheim haben wir uns die ewige Liebe geschworen. Weit über den Tod hinaus." Er klang ziemlich stolz darauf und es klang schön. Die gleiche Person zu lieben, obwohl diese nicht mehr da war.

Die Bestrahlung verlief auch ganz gut. Bei Mia war es schon der vorletzte Zyklus. Bei ihr war es ja nur der Test, ob ihr Tumor auf die Chemo anschlagen würde. Sollte er das nicht getan haben, würden sie sofort die ganze Brust entfernen. Sollte er jedoch kleiner werden, würden sie noch drei weitere Zyklen laufen lassen.

Mia hatte mitten im Zyklus angefangen, ihre Haare zu verlieren. Als sie das erste Mal ein ganzes Büschel in ihrer Bürste hatte, musste ich sie wieder trösten. Ihre Haare, die sie so liebte, fielen aus. Immer mehr und immer mehr, bis sie nur noch ein paar rote Haare auf ihrem Kopf hatte. Diese hat sie sich dann mehr oder weniger abrasiert, da es, laut ihr, noch schlimmer aussähe als eine Glatze. Ganz ehrlich, auch ohne Haare sah Mia verdammt schön aus. Und das sagte ich ihr auch ganz offen. "Mia, ob du jetzt deinen Bauernzopf hast, oder ob du keinen hast. Du bist das schönste Mädchen, dass ich je gesehen hab. " Sie lächelte mich an. "Schleimer." Ich schüttelte nur behaglich den Kopf. Ich meinte es genau so, wie ich es gesagt hatte.

Zwischendurch hatte auch Reinhardt nochmal einen Blick bei uns reingeworfen. Einfach, weil er, laut seiner eigenen Aussage, nichts besseres zutun hatte. Wir freuten uns über jeden Besuch. Meine Mutter war auch noch gekommen an dem Tag, es müsse sonntag gewesen sein und hatte sich mit Reini unterhalten. Sie hatten viel gelacht und verstanden sich gut.

Nun waren alle Chemos und Bestrahlungen für diesen Zyklus vorbei. "Stegi, ich würde dich gerne zum CT abholen." So kam Chris in mein Zimmer geplatzt, als ich meine Tasche einräumte. "CT?", fragte ich verwundert. Niemand hatte mir was davon gesagt. "Ja, wir wollen sehen, ob die Therapie anschlägt.", erklärte er mir und ich ließ mich mit einem Seufzen in den Rollstuhl fallen, den er mir aufgezwungen hatte.

Ich legte mich in die Röhre und bewegte mich nicht, so wie der Arzt es mir gesagt hatte.

Ich wurde danach gebeten, vor dem Sprechstundenzimmer Platz zu nehmen und einfach zu warten. Also saß ich dort. Wippte mit meinen Füßen auf und ab und war ziemlich angespannt. Da es zehn nach zwei war und ich wusste, dass Tim bis fünf nach zwei Schule hatte, schrieb ich ihm. Um zwanzig nach zwei saß er dann neben mir und wartete.

"Stegi, kommst du?", fragte eine nette Krankenschwester und brachte mich in das Zimmer von Doktor Blühmer. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. "Setz dich doch, Stegi." Er bot mir den Platz vor seinem Schreibtisch an. Er sah mich über den Rand seiner runden Brille an. Die Gläser hatten keinen Rahmen und die halter waren dünn und unauffällig. Sein Blick wanderte immer wieder auf seinen PC.

"Die Ergebnisse vom CT sind eindeutig."

Vielleicht bewegen wir uns schleichend auf das Ende zu :)

Liedzeile: -Chasing Cars by Snow Patrol-

*PS: Song oben eingefügt*

Angels can fly • stexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt