Kapitel 57 • Überzeugungskraft

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>Und immer, wenn mein Herz nach dir ruft und das Chaos ausbricht in mir drin<

Mittlerweile waren drei Wochen vergangen, nachdem ich meine Chemo abgebrochen hatte. Was sollte ich sagen, Mia kam mit dem Mädchen auf ihrem Zimmer nach genau einer Woche zusammen. Sie hatte mir nie erzählt, wie es denn genau passiert ist. Aber das war nie relevant für mich. Ich fand es nur sehr krass, dass das so schnell ging, aber ich freute mich unglaublich für die beiden. Sie waren echt süß zusammen. Celina war sehr nett und passte perfekt zu Mia. Sie hatte Lymphknotenkrebs, aber ziemlich gute Heilungschancen. Mia war glücklich. So überaus glücklich. Ihr ging es besser.

Mir ging es schlechter. Das war kein Wunder. Ich war noch schneller müde als sonst, schlief länger und generell war alles scheiße. Tim hatte dieses Wochenende etwas für uns geplant. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er mit mir vor hatte, aber ich vertraute ihm. Mehr als jeder anderen Person. Er kam jeden Tag vorbei. Manchmal saßen wir nur auf dem Bett und kuschelten, ja, vielleicht weinten wir auch ab und zu. Und andere Male gingen wir nach draußen. Nicht weit, aber wenigstens raus. Frische Luft, Menschen. Natur, Leben. Ich machte vielen Leuten auf der Straße Komplimente, war offener. Mich würden sie nie wieder sehen, aber ich hoffte, ihnen den Tag zu verschönern. Sie sollten die Tage schätzen. Jeder, der nicht zum sterben in nächster Zeit verdammt war, sollte froh sein. Diese Leute sollten das Leben genießen, einsehen, dass sie so ein Glück hatten. Überall gab es positive Dinge und jeder sollte lernen, sie zu schätzen. Niemand hatte es verdient geschlafen, getreten oder vergewaltigt zu werden. Niemand. Und es hatte auch niemand verdient verbal verletzt zu werden. Niemand. Und die Leute verstehen nicht, warum einige den Wunsch zu sterben haben. Und ich fand diese Leute so unendlich stark. Die Leute, die diesem Druck standhalten und all das über sich ergehen lassen und trotzdem leben und kämpfen. Erst, wenn man in der Situation ist, dass der Tod unausweichlich ist und man nichts machen kann, ja dann versteht man das Leben.

"STEGI, TIM IST DA!", rief meine Mutter von unten. Also ging ich die Treppe runter. Ich war erschöpft. Vom Laufen. Davon, die Treppe hinunter zu gehen. Und sofort war er da, küsste mich und nahm mich in den Arm. Hallo", murmelte ich gegen seine Schulter. Seine breite, muskulöse Schulter, die mir Halt gab. Dieser Mensch hielt die Zeit für mich für einen kurzen Moment an. Und Zeit, ja, davon könnte ich gerade so viel mehr gebrauchen.

"Tim, ich erwarte, dass du mir meinen Jungen im Ganzen nach Hause bringst.", ermahnte meine Mutter meinen Freund. "Ich pass auf ihn auf.", schwor er und dann verließe wir auch schon das Haus. "Wohin fahren wir denn?", fragte ich neugierig. Aber er sagte mir nichts. "Wirst du sehen", antwortete er nur und nahm mich an die Hand. Wir liefe zur nächsten Bushaltestelle und warteten auf den Bus. Nervös sah Tim immer wieder auf den Plan, der an der Haltestelle hing. "Scheiß Verspätungen.", murmelte er. Er sagte es mehr zu sich als zu mir. Und trotzdem stand ich auf und umarmte ihn von hinten. Sofort entspannte er sich. Und da kam der Bus und wir stiegen ein. Alles voll, kein Sitzplatz und meine Beine wurden schwer. Immer schwerer. "Entschuldigung,", sprach Tim eine relativ junge Frau an, "könnte mein Freund sich hier hin setzten? Ihm geht es nicht gut." Sie überlegte nicht lange. "Wenn es ihm doch ach so schlecht geht, soll er nicht im Bus fahren. Ich saß hier." Und ihr Ton ließ keine Diskussion zu. "Setz dich hier hin. Nicht, dass sie mir gleich umfallen." Eine ältere Dame stand auf und bot mir ihren Sitzplatz an. "Dankeschön.", murmelte ich und ließ mich erschöpft auf den Platz sinken. Ich wühlte in meinen Taschen. "Möchten sie ein Stück Schokolade?" Ich hielt ihr einen zerbrochenen Kinderriegel hin. "Dankeschön", lächelte sie und nahm sich die Hälfte. Und wieder wurde mir klar, dass die Leute, die selbst etwas so dringend brauchten, gerne mit jemanden teilten, der es mindestens genauso gebrauchen konnte.

"Komm, hier müssen wir raus." Wir waren zwei Mal umgestiegen und schienen endlich angekommen zu sein. Aber ich konnte nichts sehen. "So, das tut mir jetzt mehr oder weniger leid, aber ich verbinde dir jetzt die Augen." Und dann wurde ich auch schon hochgehoben. Nach zwei Minuten hörte ich Stimmen. Viele Stimmen. "Zei Jugendliche", sagte Tim freundlich und lief weiter. Hinter uns hörte ich gemurmel. Ich war ja immer noch auf Tims Arm. "Ich setzte dich jetzt ab, achtung." Und da standen meine Füße auch schon auf dem Boden. Meine Augenbinde wurde mir abgenommen und ich musste ein paar Mal blinzeln, weil das Licht zu hell war im ersten Moment. Und ich sah mich um. Achterbahnen. Überall. "Ist es das was ich denke?", fragte ich ehrfürchtig. "Ich wusste zwar nicht, dass du denken kannst, aber ja, wahrscheinlich, wahrscheinlich ist es das." Er lächelte mich warm an. Ich strekte mich ihm entgegen. "Danke", hauchte ich gegen seine Lippen und drückte meine dann auf seine. Wir küssten uns. Mitten im Freizeitpark. Vor allen Leuten. Und es war mir mehr als egal. Alles egal. Außer er. Außer Tim. Außer diesem Kuss. Die Welt hielt kurz an. Für ein paar Momente. Einfach, weil es so sein musste.

"Nein, Tim! Da geh ich nicht drauf!", protestierte ich. Er stand vor einer sausteilen Achterbahn, die auch einige Loopings und Schrauben hatte. "Stegi, das hier ist das letzte Mal, dass du das machen kannst. Du wirst diese Chance nie wieder bekommen. Und ich werde nie wieder die Chance bekommen, hier mit dir hinzugehen und auf dieser Achterbahn zu fahren." Und das überzeugte mich. Ich wollte ihm eine schöne Zeit machen. Er würde ohne mich klar kommen müssen. Ich wäre ja tot, ich würde davon nichts mitbekommen. "Na gut, für dich. Komm, ich wills hinter mich bringen." Ich griff seine große Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Mit schnellen Schritten gingen wir zur Warteschlange, die nicht so lang war, wie manche andere, an denen wir heute schon angestanden hatten. Und trotzdem wurden meine Beine knapp nach der Hälfte weich. Einmal wegen Erschöpfung und vielleicht auch ein bisschen wegen der Angst vor dem, was gleich kommen würde. Tim machte kurzen Prozess und setzte mich kurzerhand auf das Geländer, das die Warteschlange markierte.

"Ich will nicht! Ich gehe jetzt!", protestierte ich kurz bevor wir in die Bahn einsteigen durften. "Ich will aber, dass du das machst." Er nahm mich kurz zur Seite. "Du wirst dich zuhause so sehr darüber ärgern, dass du das nicht gemacht hast, dass du das verpasst hast. Du darfst mich schlagen, wenn es dir nicht gefallen hat, aber ich möchte nicht, dass du es ändern willst, wenn du es nicht mehr ändern kannst!" Er war so eindringlich und widerwillig stimmte ich zu. Also stiegen wir bei der nächsten Fahrt ein. Mein Herz raste, mein ganzer Körper kribbelte und ich hatte Angst. Ich wollte das nicht. Nein, ganz und gar nicht. Wir wurden hochgezogen. Und dann ging es runter. Immer schneller. Meine Perücke hatte ich vorher in meinen Rucksack gesteckt, den ich an die Seite Bahn gestellt hatte. Es war schnell. Viel schneller als ich erwartet hatte. Aber auch besser. Viel besser als ich erwartet hatte. Die Loopings fühlten sich fantastisch an. Der Wind der mich umgab, dieses Gefühl der Freiheit. All das machte es schön. Wunderschön. Und dann war es auch schon vorbei. Die Bahn hielt an. Wir stiegen aus. Ich wankte ein bisschen, aber da war ja Tim, an dem ich mich festhalten konnte. Tim, der mich immer festhielt, der immer da war. Mein Fels in der Brandung.

"Und, wie wars, Jungs?", fragte meine Mutter, als wir wieder ins Haus traten. Wir waren ziemlich durchgefroren, aber es hatte sich gelohnt. "War schön.", antwortete ich nur. "Stegi, immer, wenn du mir erzählst, wie etwas war, fühlt es sich an als ob man dabei gewesen wäre.", scherzte meine Mutter. "Ich erzähl's dir morgen, ich bin müde.", sagte ich uns unterstrich meine Aussage mit einem Gähnen.

Tim musste nach Hause. Und ich lag im Bett. Dachte nach. In ungefähr einem Monat wäre Tims Geburtstag und die Woche danach sein Spiel. Und ich hatte keine Ahung, ob ich das schaffen würde. Ob ich es bis zu seinem Geburtstag schaffen würde. Und trotzdem setzte ich mich an meinen PC. Ich war müde, sehr müde. Und trotzdem stezte ich mich an meinen PC und öffnete Google. Ich wollte Tim etwas zum Geburtstag schenken. Ob er  es von mir oder von meiner Mutter bekam, war mir egal. Er sollte es bekommen. Einen Plüschdinosaurier. Einen Stegosaurus. Weil er etwas von mir bei sich haben sollte. Für immer. Für immer und ewig.


Liedzeile: -meine Soldaten by MAXIM-

*Ps: Song oben eingefügt*



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