Kapitel 29

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Kimis Sicht:

Ashley tat nichts, er saß einfach nur da und schaute an die Wand gegenüber. „Tut mir leid“, flüsterte er und sah zu mir rüber. „Manchmal vergesse ich, dass es auch Menschen gibt, die nicht in einer Mafia groß geworden sind. Und wenn sie dann nicht verstehen, was ich durch machen musste, legt es den Schalter in mir auf Abwehr und Aggression“, erklärte er, und man hörte die Traurigkeit aus seiner Stimme heraus.

„Wer waren diese toten Leute?“,  fragte ich mit zittriger Stimme. „Wir haben hier tote Massenmörder aus dem Gefängnis, die gestorben sind, und Penner oder Leute, die keine Familie haben, und auch Leute, deren einzige Familie die Mafia war“, erklärte er, und mir fiel ein Stein vom Herzen.

Erleichtert seufzte ich auf. „Hattest du etwa gedacht, wir bringen Menschen um, nur damit wir Organe haben?“, fragte er entsetzt. Beschämt nickte ich. „Ach Kimi“, seufzte er und nahm mich in den Arm. „Sowas würden wir niemals tun“, tröstete er mich, und ich schmiegte mich an seine Brust. Ich war heilfroh, dass ich ihm weiterhin vertrauen konnte und er kein Monster war. Das dachte ich zumindestens.

Vielleicht war er auch ein Monster, weil er Menschen aufschnitt, aber das war mir gerade egal. In diesem Moment brauchte ich nur jemand Starken neben mir, der mich über meinen Frust brachte. Und da war es mir egal, ob dieser jemand der Grund für alles war.

Lange lag ich so an seiner Brust, und ich wurde immer ruhiger. „Erzähl mir alles!“, flüsterte ich, als ich mich bereit dazu fühlte, die ganze Wahrheit über diese Mafia herauszufinden. „Was alles?“, fragte Ashley verwirrt. „Alles über diese Mafia, mit was ihr euer Geld verdient, was ihr den ganzen Tag so macht, einfach alles.“ „Können wir einen Deal machen?“ „Kommt drauf an welchen?“ „Du kommst mit Mick und mir nachher zum Trainingsplatz, schaust uns ein wenig zu und machst morgen ein Übungsstunde bei Mick, und dafür erzähl und zeig ich dir heute Abend in meinem Büro alles, was du wissen willst, und beantworte dir jede Frage so gut ich kann.“ „Okay, Deal“, meinte ich, richtete mich auf, und wir gaben uns einen Handschlag.

„Wann ist dein Training überhaupt?“, fragte ich und sah auf meinen kleinen Wecker, den ich von Zuhause mitgenommen hatte. „Um 16 Uhr“, antwortete Ashley. „Dann haben wir noch eine halbe Stunde Zeit.“ „Eine viertel Stunde.“ „Warum?“ „Umziehen?“ „Ach so.“ Da klingelte Ashleys Handy, er ging ran und legte kurz darauf wieder auf, nachdem er einmal „Okay“ gesagt hatte.

„Ist was?“, fragte ich verwirrt. „Nein, alles bestens, wir sollen nur kurz zu Vicky kommen, sie hat was für dich.“ Verwirrt sah ich ihn an, doch er zuckte nur mit den Schultern und stand auf. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu Vickys Büro. Als wir eintraten, stand sie sofort auf und wühlte unter ein paar Zetteln ein Handy-ähnliches Gerät hervor.

„Schau Kimi, das ist ab jetzt dein 'Navi', damit du dich nicht verläufst, falls mal keiner für dich Zeit hat“, erklärte sie und lächelte mich freundlich an. Ich begutachtete das Teil. „Und wie gebe ich mein Ziel ein?“, fragte ich, denn in Sachen Technik bin ich nicht sonderlich begabt.

Wobei, doch irgendwie war ich schon begabt, zwar mehr im Zerstören als im Benutzen, aber das war ja 'sozusagen das Gleiche'. „Schau her, einfach auf diesen Knopf drücken, damit es angeht, und dann da oben eingeben, wohin du willst, also zum Beispiel: Betten, Trainingsplatz, Lagerhalle 5, Haupthalle oder Duschen. Völlig egal, was du eingibst, dieses Gerät führt dich an dein Wunschziel“, erklärte mir Victoria und machte es mir vor. „Okay, vielen Dank, das dürfte ich schaffen“, bedankte ich mich und ging zusammen mit Ashley zu seinem Büro.

„Ich muss mich nur noch schnell umziehen und dann können wir zum Training gehen“, meinte er und zog bereits ohne zu zögern Hose und T-Shirt aus. „Okay, das Wort vorwarnen kennst Du nicht, oder?“, fragte ich.

„Dieses Wort ist durchaus in meinem Wortschatz. Aber wenn Dir dieser Anblick nicht gefällt, kannst du dich gerne umdrehen“, meinte er spöttisch und deutete auf sein Sixpack. Er grinste, als ich mich umdrehte und die Bilder an der Wand und auf seinem Schreibtisch studierte. „Seid Ihr das?“, fragte ich und betrachtete ein eingerahmtes Foto auf Ashleys Schreibtisch, auf dem zwei Jungs, eine Frau und ein Mann abgebildet waren.

„Ja, damals waren wir noch eine Familie“, sagte er nachdenklich, während er neben mich trat. Immerhin hatte er schon wieder eine Hose an und nicht nur Boxershorts. „Wie alt warst du da?“, fragte ich verlegen. „10.“ „Und dein Bruder?“ „12.“ Er drehte sich um, zog ein T-Shirt an und streifte sich noch schnell einen Pulli über.

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie er sich noch ein Messer und eine Pistole einsteckte. „Gehen wir?“, fragte er, erwartete aber keine Antwort. Ich löste mich von dem Anblick des, beinahe perfekten, Familienfotos und ging Ashley hinterher.

Wir gingen hinaus aufs Gelände und dann zwischen ein paar Lagerhallen hindurch. Bis wir vor einem kleinen Fleckchen Wiese standen. In der Mitte der Wiese war eine Fläche aus rotem Gummibelag, so ein Belag wie auch auf Sportbahnen war. Ashley sah auf seine Armbanduhr. „Mick dürfte gleich da sein, kannst dich ja schon mal da hinsetzen“, meinte er und deutete zu einem Pfosten auf der Wiese.

Also setzte ich mich hin und lehnte mich an dem Pfosten an. Ashley fing währenddessen an, sich warm zu laufen. Nachdem er fertig war, ging er zu dem Gummiboden und machte Liegestützen, innerlich zählte ich leise mit, wie viele er machte. Nach geschätzten 2 Minuten hatte er bereits 60, und es ging in flottem Tempo weiter. Es schien ihn nicht sonderlich anzustrengen. Irgendwann gab ich es auf, mitzuzählen.

Gut kann auch böse...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt