43× December: Christmas in the hospital

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„Meine Schwester konnte sie sichtbar machen. Damals waren es andere Zeiten und sie starb an dieser Gabe. Sie war zu schwach um diese zu kontrollieren.“
„Du sagst, diese Gabe ist eine facettenreiche Fähigkeit. Also gibt es doch noch Hoffnung für Veira?“ wollte ich neugierig wissen.
„Ja, aber dafür braucht sie – laut Florentyna – den sonnengelbe Faden. Dies steht für die Heilung der vergangenen Tage, für die Munterkeit in der Gegenwart und für den Ehrgeiz in der Zukunft.“
„Und wie kann man dies heraufbeschwören?“ verlangte ich zu wissen.

Betrübt sah Caius die Tasse an, in dem der kalt gewordene Kaffee vor sich hin schwappte. Er wandte sich davon ab und sah gedankenverloren hinaus. Die Regentropfen perlten hinab und scheinbar eiferte Caius innerlich darum, wer der schnellere war. Als er mich wieder ansah, lächelte er gequält aus.

„Sie. Nur sie alleine kann diese heraufbeschwören. Niemand kann ihr von außen helfen. Entweder sie bleibt so bis die Ärzte die Stecker aus den Geräten ziehen oder sie wird sterben, wenn wir ihr nicht nachhelfen.“
„Sie wird so oder so sterben?“ fragte ich schluckend und irritiert.
„Paul, es gibt eine Möglichkeit, aber dafür musst du in ihre Gedanken kommen und ihr sagen, sie soll alle Fäden lösen, die sie in diesem Moment in ihrem Kopf gesponnen hatte. Sie muss verstehen, dass diese Fäden ihr Leben hier auf dieser Seite einschränkt. Sie muss sich von all ihren Gefühlen und ihrer Vergangenheit lösen und aufwachen. Zur Not sagst, du noch einmal diese Worte, die sie schon so lange von dir hören wollte noch einmal.“

Mit neuem Mut gepackt, kehrte ich zurück ins stille Zimmer von Veira. Seit Monaten lag sie auf der Intensivstation, wurde künstlich beatmet und schlief ruhig; bis auf die wenigen Aussetzer. Diese kamen alle Monate vielleicht fünfmal vor. Anscheinend verletzte ich sie mehr als von außen zu sehen war. Selbst das sechsmonatige Kind starb bei meiner Attacke. Womöglich litt ich deswegen enorm, weil ich genau wusste, dass sie mir nie verzeihen würde. Sie würde mir nie wieder sehen wollen. Ich bemühte positiv zu denken, doch mein allererstes 'Ich Liebe Dich' war dahin, als ich ihr das Wertvollste nahm. Veira wollte immer Kinder haben und nun verlor sie eines. Die Beerdigung bekam sie nicht mit. Zuerst war es eine Tragödie, später wurde es zum Drama und nun wünschte ich mir es wäre alles nur ein Märchen.

Veira und ich hatten immer nur funktioniert, nach Regeln und Listen der Familien. Inmitten der Schnappschüsse wollten wir das Leben erwischen. Plötzlich musste ich feststellen, dass ich bei ihr blieb für immer – auch wenn es heißen würde, sie irgendwann zum Sterbebett zu begleiten. Ich werde bei ihr bleiben, weil es meine eigene Schuld war. Ich war daran Schuld, dass ich sie wieder fand und schließlich verlor. Sie verpasste so viel. Die Beerdigung, die Hochzeit von Bella und Edward, die Flitterwochen, die Verwandlung zu einem Vampir und die kleine süße Renesmee.

November

Dezember

Dieser Moment als sie verwirrt Jacob ansah, weil sie nicht genau wusste, warum er sie nun alleine ließ. Dieser Moment, als ich mich vom Altar entfernte und mir absolut sicher war, dass ich sie vor Gott ehelichen würde. Veira Lahote hieß sie vor dem Standesamt bereits. Dieser Moment vor Gott, so sollte es nicht sein. Ihre Blicke lagen durch dem Schleier sanft auf mir. Ihr Lächeln beobachtete ich schemenhaft hinter dem Tüll. Diese eine Sekunde in dem ihr Lachen erfror und ihre Augen wild um sich schlugen. Diese eine Sekunde veränderte das Leben vieler Menschen. Rachel wusste gar nicht, was ihr geschah. Ich wurde immer unglücklicher – so stellte ich mir das Prägen nicht vor. Als ich jedoch Veira wieder sah wusste ich, dass sie diejenige war, auf die ich mich geprägt hatte.

Während alle sich bei ihren Familien aufhielten und sich auf die Feiertage einstimmten, saß ich bewusst neben ihr und sah mir die alten Chatverläufe an. Ich hatte sie alle noch von unserem ersten geselliges Zusammenkommen bis zu unserer letzten Begegnung. Bis auf Caius war hier niemand. All die anderen mieden dieses Krankenhaus und diese Situation. Demetri wurde von Caius sichtlich nach Italien zurück geschickt und er könnte wirklich etwas erleben. Allerdings betraf ihn auch wirklich keine einzige Schuld. Er konnte genauso nicht wissen wie ich, dass sie sich in den Kampf einmischte.

Caius brachte einen kleinen Weihnachtsbaum ins Zimmer und legte sich viel Mühe zu um die Beleuchtung und die Kugeln einigermaßen ansehnlich heran zustecken. Das Zimmer war wahrlich im weihnachtlichen Flair geschmückt. Überall hing Rituale, die auf diese Weihnachtszeit schließen konnte. Vielleicht bekam sie doch was davon mit, hoffte ich. Caius erzählte in den letzten Adventstagen Geschichten aus anderen Epochen und wir feierten eben ganz bescheiden Advent. Veira war eine Person, die auf solche Rituale sehr viel wert legte.

„Wie konntest du nur in meine Augen sehen? Du hast dir alle meine Kapitel durchgelesen und keine einzige Seite übersprungen. Du kanntest mich wie noch keine zuvor. Du kanntest die Seiten, die hinunter führten in mein Innerstes, an jenem Ort so kalt und gefühllos vorzufinden war. Ohne Seele schlief mein Geist an jenem eisigen Ort, bis du ihn dort aufgefunden hast und in deinem Herzen eine Heimat beherbergtest. Veira, du hast mich im Inneren geweckt. So rufe ich auch deinen Namen nun und versuche dich aus dieser Dunkelheit zu befreien. Jetzt erst weiß ich, was mir fehlt und ich werde dich dieses Mal nicht einfach verlassen. Ich habe dich nie von mir weg gedrängt. Ich wollte immer ein Teil deines Lebens sein. Jedes Mal wenn es intensiver wurde, bist du weggegangen. Erst mit deinen Eltern und dann das mit deiner Gabe. Erfroren im Innern ohne deine Berührung, ohne deine Liebe, Liebling. Nur du bist das Lebende unter all dem, was ich kannte. Es scheint, als habe ich tausend Jahre geschlafen. Muss meine Augen für alles öffnen. Ich werde dich hier nicht sterben lassen und wenn es einen Gott gibt, so werde ich alles daran setzen, dass du wieder bei mir bist. Ich liebe dich, Veira Lahote. Ich liebe dich wirklich so sehr. Ich bitte dich darum, löse deine Fäden und kehre zu uns zurück.“

Meine Stimme verzagte als ich zum Ende hin begriff, dass sie im wachen Modus mir immer eine Marsch geblasen hatte und nun still. Alles war still und tonlos.

Die MarionettenspielerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt