Der erste Schultag

708 18 0
                                    

Leise seufzend stellte ich den Brotkorb auf den Tisch und hörte im nächsten Moment die polternden Schritte meiner Familie. Zuerst betrat Tabea die Küche, meine kleine Schwester und unser Sonnenschein. Lächelnd drückte ich ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor sie sich auf ihren Platz setzte und sich ein Brot machte. Mit schiefgelegtem Kopf beobachtete ich sie, bis ich durch einen heftigen Stoß aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. In letzter Sekunde fing ich mich und schenkte meinem 13-jährigen Bruder Jonny einen genervten Blick. „Kannst du nicht aufpassen?" „Pass doch selber auf!", fuhr er sofort zurück und ich versuchte mich wieder zu beruhigen. Tief durchatmend setzte ich mich an meinen Platz am Frühstückstisch neben Tabea und machte ihr einen Kakao, während mein älterer Bruder Timo mit verwuschelten Haaren und tiefen Augenringen durch die Tür kam. Ohne ein Wort drückte ich ihm meine Tasse Kaffee in die Hand, woraufhin er nur kurz dankend die Hand hob und sich auf seinen Platz mir gegenüber fallen ließ. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten seine verschlafenen Augen aus dem Fenster und ich folgte dem Blick, der eine Blondine mit sehr knappem Rock streifte. Leicht den Kopf schüttelnd konzentrierte ich mich wieder auf die Küche, in der in diesem Moment mein Vater und mein Bruder Mark erschienen. „Guten Morgen Kinder. Na, seid ihr aufgeregt?" Sofort begann Tabea zu reden und erklärte, dass sie kein bisschen aufgeregt sei, weil sie sich sicher war, auf der neuen Schule sofort Freunde zu finden. Dann betete sie und wir konzentrierten uns alle auf unser Frühstück. Sobald ich einen Apfel heruntergewürgt hatte, stand ich auf und ging nach oben. In meinem Zimmer angekommen, öffnete ich meinen Kleiderschrank und tauschte die Schlafshorts und das übergroße Shirt meines Vaters gegen eine dunkelblaue Hotpants, ein weinrotes Top und einen grauen Cadigan. Das braune Lederarmband, das ich von meiner Mutter geerbt hatte, wanderte an mein linkes Handgelenk neben die Uhr, dann streifte ich mir zwei Haargummis über die rechte Hand und lief ins Bad, um Zähne zu putzen. Wie üblich tat ich das zeitgleich mit meinem Bruder Mark, der mir ein kurzes Lächeln schenkte, bevor die Zahnbürste in seinem Mund verschwand. Zwei Minuten lang hörte man nur das regelmäßige Schrubben, dann spuckten wir beide aus, gurgelten synchron mit ein wenig Wasser und verließen das Bad. Meine Schritte führten mich wie jeden Morgen in Tabeas Zimmer, wo ich ihr half den Ranzen zu packen und ihre langen braunen Haare, die sie von Mama geerbt hatte, flechtete. Auch ich hatte dunkelbraune Haare, während meine drei Brüder die mittelblonden Haare meines Vaters geerbt hatten. Mark, Jonny und ich hatten außerdem Papas dunkelblaue Augen, während Timo und Tabea extrem hellblaue Augen hatten, genauso wie Mama damals. Ein Schmerzenslaut meiner Schwester riss mich aus meinen Gedanken. „Aua, das ist zu fest!" „Entschuldige Prinzessin. Ich pass' besser auf." Während meine Gedanken wieder auf die Reise gingen, lauschte ich mit halbem Ohr den Erzählungen meiner Schwester, die schon Pläne schmiedete, wie sie heute neue Freunde finden wollte. Ich nickte nur ab und zu, dann nahm ich das eine Haargummi von meinem Handgelenk und verband den holländischen Zopf, den ich Tabea geflochten hatte. „So, fertig. Hast du alles?" Die Kleine nickte und lief schonmal die Treppe runter, während ich mir in meinem Zimmer schnell meine ausgelatschten weinroten Chucks überstreifte und meine Tasche nahm. Bevor ich Tabea nach draußen folgte, kontrollierte ich Marks und Jonnys Zimmer und scheuchte Letzteren vor mir nach unten. Vor der Haustür wartete Papa schon bei laufendem Motor im Auto, wofür er sich sofort eine Umweltbelehrung von Tabea anhören musste. Eilig sprangen wir alle in den Wagen und ich schloss die Tür, wobei ich noch einen letzten Blick auf Timo erhaschte, der am Küchenfester stand und unsere Abfahrt beobachtete. Er musste erst später bei einer Vorlesung sein, hatte aber morgens bei dem Krach, den wir veranstalteten, kaum eine Chance weiterzuschlafen. Während der gesamten Autofahrt knetete ich krampfhaft meine Finger, bis wir die Schulen erreichten. Tabeas Grundschule lag direkt neben Marks, Jonnys und meinem Gymnasium, was uns in Zukunft mit Sicherheit einiges an Fahrerei ersparen würde. Wir verabschiedeten uns alle von Papa, der mit quietschenden Reifen davonfuhr. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass er schon etwas spät dran war. Ich schickte ein kurzes Stoßgebet an Gott, er möge ihn beschützen und sicher angekommen lassen, dann brachte ich Tabea zur Grundschule. Das Sekretariat war schnell gefunden und eine freundliche Brünette nahm meine Schwester direkt mit zu ihrem Unterricht. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass ich schon ziemlich spät dran war, weshalb ich zu meiner Schule joggte und schließlich keuchend neben Mark zum Stehen kam, der vor dem Sekretariat auf mich wartete. „Wir haben der Sekretärin erklärt, wo du bist. Hier ist dein Stundenplan." „Danke Bruderherz, wir sehen uns in der Pause." Wir machten unseren Check (ich hatte mit jedem meiner Geschwister einen anderen), dann entfernten wir uns in entgegengesetzte Richtungen voneinander. Dank meines gutes Orientierungssinns fand ich mein Klassenzimmer recht schnell und betrat mit dem Klingeln den Raum. Am Lehrerpult stand eine junge Frau mit rotblonden Haaren, die mir ein freundliches Lächeln schenkte. „Hallo, ich bin Frau Kreimer und du bist bestimmt unsere neue Schülerin. Rebecca, richtig?" Ich nickte. „Genau." „Alles klar, in der zweiten Reihe ist noch ein Platz neben Lara frei. Da kannst du dich hinsetzen." „Dankeschön." Ich folgte der Anweisung und ließ mich neben ein etwas kräftigeres Mädchen mit dunkelblonden Locken fallen. Sie lächelte mich schüchtern an. „Hi." „Hey. Du bist Lara, richtig? Ich bin Rebecca." Lara wollte mir gerade antworten, als schräg hinter mir jemand zischte: „Halt dich bloß von der Fetten fern, Neue. Sonst bist du hier ganz schnell unten durch." Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen und schaute mich um, doch ich entdeckte den Sprecher nicht. Seine Worte ignorierend schenkte ich Lara ein aufmunterndes Lächeln, dann konzentrierte ich mich auf die Lehrerin. „Guten Morgen, ihr Lieben. Wir euch vielleicht schon aufgefallen ist, habt ihr eine neue Schülerin im Kurs. Rebecca Lorenzen." Sofort lagen alle Blicke auf mir, weshalb ich mich auf meinem Stuhl immer kleiner machte. Glücklicherweise forderte mich Frau Kreimer nicht auf, mich selbst nochmal ausführlicher vorzustellen, sondern begann direkt mit dem Unterricht. Wir würden zunächst einige Grundlagen des letzten Jahres wiederholen und dann noch etwas Neues machen, bevor die Abiturvorbereitungen begannen. Ich war glücklicherweise schon immer ziemlich gut in Chemie, weshalb ich hervorragend mitarbeiten konnte. Als es schließlich nach eineinhalb Stunden zur Pause klingelte, packte ich meine Sachen ein und schaute fragend zu Lara. „Hast du in der Pause schon was vor?" Sie schien sehr überrascht, dass ich mit ihr sprach, schüttelte dann aber den Kopf. Ich lächelte. „Zwei meiner Brüder sind auch hier auf der Schule und ich wollte sie treffen. Willst du mit?" Für einen kurzen Moment zögerte Lara, aber dann nickte sie und erwiderte mein Lächeln sogar schwach. „Gerne." Gemeinsam verließen wir den Raum und das Schulgebäude und ich schaute mich suchend auf dem Schulhof um. Schnell entdeckte ich Jonny, der bereits bei einer Gruppe Jungs stand und sich angeregt unterhielt. Ich wollte ihn dabei nicht stören und freute mich, dass er so schnell Anschluss gefunden zu haben schien. Mark stand neben einem großen Baum und wirkte etwas verloren. Mit Lara im Schlepptau steuerte ich auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter, damit er sich zu mir umdrehte. Grinsend machten wir unseren Check, dann stellte ich Lara und Mark einander vor. Während wir uns unterhielten und Lara ein wenig von den Lehrern erzählte, musterte ich sie lächelnd. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass wir noch ziemlich gute Freundinnen werden würden. Und im Stillen dankte ich Gott dafür.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt