Lara

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Lächelnd musterte ich meine dunkelblonde Freundin, die blinzelnd die Augen öffnete. "Hey." "Hey", erwiderte sie leise und hustete leicht. "Willst du was trinken?", erkundigte ich mich und sie nickte, woraufhin ich ihr aus dem angrenzenden kleinen Bad schnell ein Glas Wasser holte. Sie leerte es zur Hälfte und stellte es dann auf dem Nachttisch ab. "Weißt du noch, was passiert ist?", fragte ich sanft nach und Lara nickte schwach. "Mir war schlecht und ich wollte aufs Klo, weil ich dachte, dass ich brechen muss. Dann ist alles schwarz." "Du bist zusammengebrochen, dein Kreislauf hat verrückt gespielt. Kein Wunder, wenn du dir seit Längerem irgendwelche Pillen einschmeißt." Schuldbewusst senkte Lara den Kopf. "Ich wollte doch bloß schlank sein, damit die anderen aufhören mich fertigzumachen und damit meine Eltern stolz auf mich sind." Ich seufzte leise. "Lara, kein Mensch ist es wert, dass man sich für ihn kaputt macht. Du bist perfekt, wie du bist. Du hast so viele tolle Eigenschaften, die kaum jemand kennt, weil du dich von diesen Idioten auf der Schule runterziehen lässt. Du bist ein tolles Mädchen und es gibt keinen Grund, sich zu schämen." Sie schnaubte abfällig. "Du hast doch keine Ahnung. Du bist hübsch und klug, witzig und schlagfertig und die Jungs schauen dir reihenweise hinterher. Außerdem ist die Schule eigentlich gar nicht mein größtes Problem." Irritiert runzelte ich die Stirn. "Sondern?" Lara seufzte. "Meine Eltern. Beide gertenschlank und sportlich und ich bin die Enttäuschung ihres Lebens." Entsetzt starrte ich sie an. "Aber dein Körper ist doch nur ein Teil von vielen von dir und es ist nur das Äußerliche. Außerdem bist du lediglich ein wenig kräftiger, aber doch nicht wirklich dick. Wie können deine Eltern nicht die anderen tollen Seiten an dir lieben?" "Welche denn?" Lara lachte lieblos auf und wischte sich eine Träne von der Wange. "Ich kenne dich noch nicht richtig, aber ich weiß jetzt schon, dass du einen wunderschönen Charakter hast. Du bist witzig, schlau, sensibel und einfühlsam. Außerdem kannst du unglaublich gut zeichnen, das habe ich an deinen Hefträndern gesehen. Und ich bin mir sicher, dass du noch viel mehr tolle Eigenschaften hast, die ich noch kennenlernen möchte. Ich kann nicht verstehen, wie dein Eltern das ignorieren können." Schwach lächelte Lara mich an und wollte gerade etwas erwidern, als die Tür geöffnet wurde und zwei Personen den Raum betraten. Der Mann war mit Sicherheit mindestens 1,90m groß, hatte breite Schultern und unter seinem weißen Hemd schimmerten muskulöse Arme durch. Er schien direkt aus dem Büro zu kommen, denn er hatte sich die Anzugjacke über den Arm gelegt und eine weinrote Krawatte zierte seinen Kragen. Die Frau war deutlich kleiner und ähnlich elegant gekleidet. Die hellblaue Bluse und der dunkelgraue Rock schmiegten sich an ihren Körper, an dem kein Gramm Fett zu viel zu sein schien. Sie lächelten Lara an und liefen zu ihrem Bett, ohne mich zu bemerken. "Mäuschen, was machst du denn für Sachen, hm? Tabletten nehmen?" "Tut mir Leid, Mama. Ich wollte doch bloß schneller abnehmen." "Da musst du dir noch nicht selbst irgendwas im Internet bestellen. Wir hätten uns selbstverständlich mit dir gemeinsam hingesetzt und ein besseres Mittel rausgesucht. Deine Mutter hätte dir dazu den passenden Ernährungsplan und ich den effizientesten Trainingsplan zusammengestellt und dann hättest du ganz schnell ein gutes Gewicht gehabt." Fassungslos riss ich die Augen auf und erhob mich, womit ich die Aufmerksamkeit von Laras Eltern auf mich zog. "Mit Verlaub, das war unangebracht. Ihre Tochter hat ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt, nur um Ihnen zu gefallen und Sie fragen nichtmal, wie es ihr geht, sondern sagen ihr, wie sie besser und schneller hätte abnehmen können, was sowieso unnötig ist, weil Laras Figur völlig in Ordnung ist. Ihre Tochter ist ein wunderschönes Mädchen und Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, das zu erkennen!" Sauer atmete ich aus, während Laras Eltern mich überrascht anstarrten. "Wer sind Sie und wer erlaubt Ihnen, so mit uns zu sprechen?", fuhr Laras Vater mich wütend an und ich straffte die Schultern und schaute ihn selbstbewusst an. "Ich bin Rebecca, Laras beste Freundin. Wenn ich nicht so schnell bei ihr gewesen wäre, könnten Sie Ihre Tochter jetzt im Leichenschauhaus besuchen und deshalb habe ich das Recht, so zu reden." "Nicht so frech, junge Dame! Das gibt dir noch lange nicht das Recht, so zu reden. Du solltest jetzt gehen, aber vorher gibst du uns die Nummer deiner Eltern. Das wird ein Nachspiel haben." "Nur zu." Ich diktierte ihnen unsere Telefonnummer, dann schaute ich Lara fragend an. "Soll ich gehen?" Für einen kurzen Moment herrschte Stille, dann schüttelte sie den Kopf und schaute ihr Eltern selbstbewusst an. "Ihr sollt gehen. Wenn Ihr hier seid, kann ich nicht in Ruhe wieder gesund werden." Fassungslos starrten ihre Eltern sie an, doch Lara hielt den Blicken stand und die beiden gaben sich geschlagen. Mit giftigen Blicken in meine Richtung verließen sie das Zimmer und ich sah, wie die Dunkelblonde erleichtert ausatmete. Dann schaute sie mich unsicher an. "Meintest du das ernst?" "Was genau meinst du?", hakte ich irritiert nach. "Na ja, dass du meine beste Freundin bist." Unsicher schaute ich kurz auf meine Hände. "Sorry, ich wollte nicht- also ich meine, ich weiß ja nicht, ob das von dir aus so ist. Aber für mich bist du meine beste Freundin." Lara schluchzte leise, dann lächelten sie mich mit Tränen in den Augen an. "Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Und es wäre mir eine Ehre, wenn du meine beste Freundin wärst." Ich grinste sie an, dann lief ich zu ihrem Bett und nickte leicht, damit sie zur Seite rutschte und ich mich neben sie legen konnte. In den nächsten Stunden lagen wir einfach nur da und erzählten uns gegenseitig voneinander. Ich ließ jedoch einiges weg, von den Details zum Tod meiner Mutter bis hin zu Onkel Paul. Irgendwann schaute ich auf die Uhr und stellte erschrocken fest, wie spät es schon war. "Oh Mist, ich glaube ich muss dringend nach Hause." Schnell sprang ich aus dem Bett und schlüpfte in meine Schuhe und Jacke, dann lächelte ich Lara nochmal an. "Ich komme morgen Nachmittag wieder und bringe dir die Schulsachen, okay?" Die Dunkelblonde nickte, dann wünschte ich ihr noch eine gute Nacht und verließ das Krankenhaus. Im Bus lehnte ich meinen schweren Kopf erschöpft gegen die kühle und leicht vibrierende Scheibe. Als ich fast eingeschlafen war, hatte ich mein Ziel erreicht, stieg aus und lief noch ein kleines Stück nach Hause. Müde schloss ich die Tür auf und hinter mir zu, dann lief ich in die Küche, wo noch Licht brannte. Papa saß im gedämpften Licht der Arbeitsfläche am Esstisch und las in der Bibel, sein Laptop und eine Tasse standen daneben. Ich räusperte mich leise und er schaute erschrocken auf. Als er bemerkte, dass ich es war, schenkte er mir einen strengen Blick. "Wieso bist du erst so spät zu Hause? Du musst morgen zur Schule!" Seine Stimme klang gereizt, wahrscheinlich saß er schon eine ganze Weile hier und versuchte produktiv zu sein. Ich kannte diese Stimmung nur zu gut und verkniff mir ein Seufzen. "Sorry Papa, ich war noch-" "Ich will nicht wissen, wo du warst!", unterbrach er mich harsch und ich zuckte erschrocken zusammen, "Geh auf dein Zimmer, wir reden morgen darüber!" "Aber Papa-" "Hab ich mich nicht klar genug ausgedrückt?" Aggressiv sprang er auf und kam um den Tisch herum zu mir. Es war das erste Mal, dass ich Angst vor ihm hatte. Zitternd machte ich einige Schritte rückwärts und unterdrückte die Tränen. "Es tut mir Leid, ich- ich geh ja schon." So schnell wie möglich rannte ich die Treppe hoch und in mein Zimmer, wo ich mich mit Tränen in den Augen auf mein Bett schmiss.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt