Ich hasse dich!

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„In den kommenden Wochen werden wir uns mit ethischen Grenzfällen beschäftigen. Ich werde euch immer zu zweit ein Thema geben und ihr werdet eine Präsentation dazu vorbereiten, in der ihr zunächst den Sachverhalt erklärt, dann verschiedene Argumente aufzeigt und letztendlich einen Fall konstruiert, bei dem eure Mitschüler entscheiden werden", verkündete unsere Religionslehrerin Frau Antusch und sofort wurde aufgeregt gemurmelt. „Ich sage es gleich zu Beginn, damit das klar ist. Ich teile euch in Gruppen ein und Tauschen ist nicht gestattet!" Einige Schüler begannen zu grummeln und sich zu beschweren, aber das ignorierte Frau Antusch geflissentlich. Mir war es egal, mit wem ich in eine Gruppe kam, bis ich meinen Namen hörte. „Rebecca, du machst die Präsentation mit Elias." Ich verkniff mir ein Seufzen und wartete, bis auch noch die Themen bekannt gegeben wurden. Elias und ich sollten über Abtreibung sprechen, aber wir waren erst in etwa zwei Monaten dran, also konnte ich ihn noch eine Weile ignorieren. Elias hatte das offensichtlich nicht vor, denn sobald es geklingelt hatte, passte er mich am Ausgang ab und lächelte freundlichen. „Hi. Wann wollen wir uns um das Projekt kümmern?" „Wir haben noch ewig Zeit, also erst in frühestens einem Monat würde ich sagen." „Wirklich? Ich dachte immer du wärst jemand, der Dinge gern so schnell wie möglich bearbeitet." „Nicht, wenn ich so viel Zeit dafür habe. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich möchte zu Lara." „Wie passend, ich auch." Skeptisch schaute ich Elias an. „Was willst du denn bei Lara?" „Wir schreiben mittlerweile öfter und sie ist echt nett, also was spricht dagegen, mal die Pause miteinander zu verbringen?" Ich verkniff mir eine Antwort und stapfte einfach los, Elias folgte mir und schwieg Gott sei Dank. Offensichtlich waren meine Worte hart genug gewesen und er hatte bemerkt, dass ihn mein Leben nichts anging. Als wir Lara fanden, umarmte ich sie und zu meiner Überraschung zog auch Elias sie kurz in seine Arme. Während die beiden ein Gespräch begannen, klinkte ich mich aus und überlegte schonmal, was ich heute Mittag kochen und wann ich das nächste Mal einkaufen gehen musste. Meine Aufmerksamkeit wurde jedoch abgelenkt, als mein Blick Jonny streifte, der bei einer Gruppe Jungs stand. Gerade ließen sie eine Zigarette rumgehen und auch Jonny zog grinsend daran. Ohne ein Wort zu Lara und Elias lief ich los und riss meinem Bruder die Kippe aus der Hand. „Johannes Lorenzen, sag mal, spinnst du?" Wütend drückte ich die Zigarette einem der anderen Jungen in die Hand und funkelte meinen Bruder fuchsteufelswild an. Dass ihm die ganze Situation peinlich war, ignorierte ich geflissentlich. „Komm runter, Schwesterchen." „Vergiss es. Schlimm genug, dass du deine Gesundheit, deine Lunge und deine Stimme ruinierst, du tust es auch noch mitten auf dem Schulhof, direkt am Zaun zur Grundschule!" „Was willst du jetzt tun? Wieder versuchen mir eine zu knallen?" Ich schüttelte den Kopf, meine Stimme wurde leiser. „Nein. Ich appelliere an deine Erziehung und deinen gesunden Menschenverstand und bitte dich, als deine Schwester, nicht mehr zu rauchen und schon gar nicht so nah an der Grundschule. Kleine Kinder heben gerne mal einen Zigarettenstummel, den der Wind rübergeweht hat auf und stecken ihn sich in den Mund." „Dann sollen die das halt nicht machen", warf ein Junge zu meiner Rechten ein und ich drehte mich zu ihm um. „Sie wissen es nicht besser, das sind Kinder! Kinder sind neugierig und wissen oft nicht, was sie da gefunden haben. Deshalb ist es die Pflicht der Älteren, vorsichtig und vorausschauend zu sein." Das schien für Jonnys Kumpels nicht auf der Agenda zu stehen, denn sie begannen zu murmeln und den Kopf zu schütteln. Auch Jonny bemerkte das. „Na toll, jetzt hast du mich vor allen meinen Freunden blamiert, danke auch. Und jetzt verpiss dich, bevor ich dir eine reinhaue. Ich hasse dich!", zischte er wütend und ich taumelte zwei Schritte nach hinten, als ob seine Worte mich tatsächlich physisch getroffen hätten. Ohne einen weiteren Mucks drehte ich mich um und ging, während sich in meinem Inneren das Gefühl ausbreitete, dass ich dabei war jeden zu verlieren, der mir wichtig war.

„Jonny, bitte mach die Tür auf!", flehte ich erneut, aber mein 13-jährige Bruder reagierte nicht. Seit etwa 15 Minuten stand ich schon hier, klopfte und bettelte, dass er mich hereinließ, damit ich mich entschuldigen konnte. Zwar waren meine Gründe die richtigen gewesen, aber ich hätte ihm die Blamage vor seinen Freunden ersparen können. Seufzend klopfte ich erneut. Ich war eine schreckliche Schwester. Verdammt, was war nur aus mir geworden, seit wir in Beckshofen waren? Vor dem Umzug hatte ich mich anstandslos um alles gekümmert und es war nie vorgekommen, dass ich einem meiner Geschwister gegenüber beinahe handgreiflich geworden war. „Jonny, bitte. Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht vor deinen Kumpels bloßstellen. Ich war in diesem Moment nur so wütend und hab mir Sorgen um deine Gesundheit gemacht und um Tabeas Gesundheit. Es tut mir wirklich Leid, Jonny." Wieder kam keine Reaktion und ich gab resigniert auf. Anscheinend hatte ich es wirklich komplett verbockt, großartig. Mit schlurfenden Schritten lief ich runter in die Küche und begann das Mittagessen zu kochen, aber ich war nicht bei der Sache und als ich gerade dabei war, Salz in die Tomatensoße zu kippen, hörte ich hinter mir meinen älteren Bruder Timo. „Willst du uns alle zu Diabetikern machen?" Überrascht drehte ich mich um und schaute auf das Gefäß in meiner Hand, auf dem dick und fett Zucker geschrieben stand. Meine Augen weiteten sich und ich schaute in den Topf, wo sich die weißen Kügelchen gerade auflösten. „Mist, Mist, Mist!" Hektisch versuchte ich mit dem Löffel noch einen Teil des Zuckers zu entfernen, aber es war zu spät. Ich probierte etwas von der Soße und spuckte es sofort wieder aus. „Igitt!" Frustriert packte ich den Topf und kippte den gesamten Inhalt weg, dann wusch ich ihn aus und begann erneut mit der Soße. Timo stand noch immer im Türrahmen und musterte mich. „Geht's dir gut?", fragte er irgendwann und ich nickte sofort. „Klar. Und dir?" „Danke, mir geht's super. Aber ich glaube dir irgendwie nicht so ganz." Kurz drehte ich mich zu ihm um und lächelte so authentisch wie möglich. „Mir geht's wirklich gut. Ich ärgere mich nur darüber, dass ich jetzt eine neue Soße machen muss." „Jonny ist sauer auf dich." Ich seufzte. „Ja, ist er. Ich hab ihn beim Rauchen auf dem Schulhof erwischt und eine ziemliche Szene gemacht. Das war ihm natürlich peinlich vor seinen Freunden." „Soll ich mal mit ihm reden?", erkundigte Timo sich voller Ernsthaftigkeit und ich schaute ihn überrascht an. „Das würdest du tun?" „Klar. Auf mich hört er im Moment wahrscheinlich eher, als auf dich." Ich lächelte schwach und nickte. „Das stimmt wohl. Danke Timo. Wenn ihr fertig geredet habt, dürfte das Essen dann auch fertig sein." „Alles klar, dann wage ich mich mal in die Höhle des Löwen." Mit dieser Aussage zauberte Timo mir sogar kurz ein echtes Grinsen auf die Lippen und ich spürte, wie sehr ich meinen großen Bruder vermisst hatte. Egal, wie wenig er sonst im Haushalt mithalf, in solchen Momenten hatte er ein Gespür dafür, dass er gebraucht wurde. Und dafür war ich ihm in diesem Moment unglaublich dankbar.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt