Die Last der Welt

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Ein letztes Mal kontrollierte ich, dass meine Ärmel lang genug waren, um die blauen Flecken an den Handgelenken zu verstecken, dann betrat ich das Klassenzimmer. Es waren schon fast alle da, weshalb ich einen Platz in der zweiten Reihe nehmen musste, obwohl ich heute lieber weiter hinten gesessen hätte. Stumm räumte ich meine Geschichtssachen auf den Tisch, dann musterte ich meine Hände, bis die Lehrerin den Raum betrat. Es war die erste Geschichtsstunde, in der ich mich nicht ein einziges Mal meldete und ich spürte deutlich die Verwunderung von Frau Fischer. Sobald es klingelte, stopfte ich mein Zeug wieder in meine Tasche und verließ eilig den Raum, bevor mich jemand aufhalten konnte. Leider hatte ich die Rechnung ohne Elias gemacht, der bereits im Flur auf mich wartete, da er eben anderen Unterricht gehabt hatte. „Guten Morgen, Sonnenschein." „Morgen." Ich lieg einfach weiter und hörte, wie Elias seine Schritte beschleunigte, um mich wieder zu erreichen. „Hey, was ist los? Schlecht geschlafen?" „Kann ich nicht einfach mal meine Ruhe haben?", fragte ich genervt und drehte mich schwungvoll zu ihm um. Statt mir in die Augen zu sehen, blieb Elias' Blick jedoch an meiner Wange hängen und er wurde ernst. „Was ist das?" Sofort wurde mir klar, was er entdeckt hatte und zog meine Haare mehr ins Gesicht. „Ich weiß nicht, was du meinst." „Lüg mich nicht an, du weißt es ganz genau. Du hast 'ne richtig heftige Ohrfeige bekommen und ich will wissen, wer das war." „Das geht dich überhaupt nichts an!" Ich wollte mich wegdrehen und gehen, aber Elias hielt mich am Handgelenk fest. Sofort zischte ich auf vor Schmerz und entzog mich ihm, doch es war zu spät, denn er hatte die blauen Flecken gesehen. „Verdammt, was ist bei dir zu Hause los? War das dein Vater oder einer deiner Brüder? Das ist Körperverletzung!" „So ein Schwachsinn! Ich bin gestern hingefallen und mit dem Gesicht gegen den Schrank geknallt, das ist alles." „Ich kann jeden einzelnen Finger auf deiner Wange sehen, das war kein Schrank! Sei ehrlich zu mir. Schlägt dein Vater dich?" „Nein! Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!" Genervt drehte ich mich endgültig weg und ließ Elias stehen, der mir glücklicherweise auch nicht mehr folgte.

„Was gibt's heute zu essen?" „Das, was du kochst", entgegnete ich trocken, ohne Jonny anzuschauen, der in meiner Zimmertür stand. „Was soll das heißen?" „Dass du dich selbst darum kümmern kannst, was du heute isst. Du bist alt genug, um zu wissen, wie man Nudeln kocht und Soße macht. Wenn du Fragen hast, erkläre ich es dir aber auch gerne nochmal." „Willst du mich verarschen?" Jetzt schaute ich doch von meinen Hausaufgaben auf und zu meinem pubertären Bruder. „Sehe ich so aus? Ich bin nicht euer Kindermädchen oder die Haushälterin, also besorg' dir selber was zu essen. Du bist doch ein schlaues Kerlchen, dir wird schon was einfallen. Und jetzt lässt du mich bitte in Ruhe meine Hausaufgaben machen und schließt die Tür hinter dir." „Bitch." Ruckartig stand ich auf, war mit wenigen Schritten bei der Tür und packte Jonny am Oberarm, wobei sich meine Fingernägel in den Stoff seines Shirts gruben. „Wie hast du mich gerade genannt?" „Bitch!" Meine Hand schnellte nach oben und ich sah den Schreck in Jonnys Augen, als er realisierte, dass ich ihm eine klatschen wollte. In letzter Sekunde stoppte ich, ließ meine Hand sinken und seinen Arm los, dann schaute ich ihn ernst an. „Geh mir aus den Augen." Mit diesen Worten verpasste ich ihm einen leichten Stoß und knallte die Tür zu. Zurück an meinem Schreibtisch versuchte ich mich irgendwie auf die Hausaufgaben zu konzentrieren, doch es gelang mir kaum. Als ein vorsichtiges Klopfen an meiner Zimmertür erklang, wusste ich sofort, wer es war. „Komm rein, Mark." Die Tür wurde geöffnet und mein jüngerer Bruder betrat das Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und kam langsam zum Schreibtisch, wobei er schwach lächelte. „Timo, Jonny und ich haben uns Pizza bestellt. Ich hoffe, das ist okay für dich. Ich hab die leeren Kartons auch schon ins Altpapier gebracht." Ich seufzte leise. „Danke Mark." „Was ist los, Große? Jonny war mega sauer und ich wollte erst nicht glauben, was er erzählt hat, aber dann hat er zum Beweis seinen Oberarm gezeigt und da ist ein ganz schöner Abdruck deiner Fingernägel zu sehen." Wieder seufzte ich und schüttelte leicht den Kopf. „Es ist alles okay, mir geht's gut. Ich war nur genervt, weil ich die Chemie-Hausaufgaben nicht auf Anhieb hingekriegt hab. Ich entschuldige mich später bei ihm und morgen koche ich wieder." Mark legte den Kopf schief und ich wusste, dass er mir nicht glaubte, aber er würde nichts finden, um zu beweisen, dass es mir nicht gut ging. Mit Müh, Not und sehr viel Make-Up hatte ich mittlerweile meine Wange und meine Handgelenke überschminkt, seit dem Vorfall in Papas Büro hatte ich nicht mehr geweint und ich bemühte mich um ein leichtes Lächeln. „Würdest du mich jetzt wieder alleine lassen? Ich muss meinen Aufsatz für Deutsch nochmal überarbeiten." Mark nickte und lief zur Tür. „Alles klar. Aber du weißt, dass es hier immer jemanden gibt, der dir zuhört, wenn du es brauchst, ja? Du musst nicht die Last der Welt auf deinen Schultern tragen, Becca." Mit diesen Worten verließ er den Raum und ich atmete tief durch. Ja, es fühlte sich wirklich so an, als würde ich die Last der Welt auf meinen Schultern tragen, aber das würde ich Mark sicher nicht unter die Nase reiben. Er sollte sein Leben genießen und sich nicht zu viele Gedanken machen.

„Schön, dass du wieder da bist", begrüßte ich Lara mit einem aufgesetzten Lächeln und zog sie in eine kurze Umarmung. „Danke nochmal für deine Hilfe. Ich bin schon dabei meine Eltern zu bearbeiten, damit sie nochmal mit deinem Vater sprechen und sich entschuldigen." „Schon okay, mach dir da keinen Stress." „Weißt du übrigens, wer mich besucht hat, um sich zu entschuldigen? Elias! Er meinte, er sei ein Feigling gewesen, weil er bei den Aktionen der anderen nie dazwischen gegangen ist und du hättest etwas gesagt, was ihn zum nachdenken gebracht hat. Also muss ich mich wohl auch bei dir bedanken." Ich schüttelte leicht den Kopf. „Musst du nicht. Es hat gut getan, ihn mal anzumotzen." Schelmisch grinsend zwinkerte ich Lara zu und meine beste Freundin grinste ebenfalls, dann betraten wir gemeinsam das Klassenzimmer. Doch während ich versuchte, die mathematischen Formeln an der Tafel zu verstehen, wurde mir bewusst, dass ich Lara vieles verschwieg. Ich nannte sie meine beste Freundin und doch konnte ich mir nicht vorstellen, ihr wirklich etwas zu erzählen, was mir auf dem Herzen lag. Andererseits konnte ich mich auch nicht überwinden, es jemandem aus meiner Familie zu erzählen. Überhaupt, ich würde es niemals irgendjemanden erzählen. Das waren meine Probleme, damit sollte niemand anders kämpfen müssen.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt