Fortschritte und Rücktritte

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Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, während ich mühsam einen Schritt nach dem anderen machte. "Das war großartig. Lass uns aber für heute aufhören, damit du dich nicht überanstrengst", sagte die Physiotherapeutin lächelnd und ich hätte ihr für diese Aussage am liebsten mitten ins Gesicht geschlagen. Überhaupt nichts war großartig! Drei Tage nachdem ich aufgewacht war, hatte es innere Nachblutungen gegeben und ich musste erneut operiert werden. Danach hatte ich strengste Bettruhe verordnet bekommen, was jegliche Bewegung ausschloss und das hatte zur Folge, dass ich jetzt das Gefühl hatte, das Laufen wieder komplett neu erlernen zu müssen. Meine Fortschritte bei der Physiotherapie waren praktisch nicht vorhanden, aber jeder laberte ständig irgendwas davon, wie toll ich mich schlug und dass ich ganz schnell wieder bei 100% sein würde. Dass das Bullshit war, war offensichtlich nur mir klar. Seufzend ließ ich mich in den bereitstehenden Rollstuhl fallen und wurde zurück zu meinem Zimmer gebracht. "Schwester Saskia kommt gleich und hilft dir beim Duschen." Ich nickte bloß mit einem sauren Lächeln auf den Lippen und kaum war die Zimmertür geschlossen, rollte ich mich einhändig zum kleinen Badezimmer. Dann spannte ich jegliche Muskeln an und erhob mich wacklig aus dem Rollstuhl. Vorsichtig machte ich einen Schritt nach vorne und grinste stolz, als ich ihn stand und das Gleichgewicht nicht verlor. Sicherheitshalber stützte ich mich an der Wand ab und ließ mich dann auf den Toiletten Deckel sinken. Mein Herz pochte wie wild vor Anstrengung und ich keuchte, als hätte ich einen Marathon hinter mir, aber der Stolz verschwand trotzdem nicht. Auch als Pflegerin Saskia wenige Minuten später mein Zimmer betrat und mich schimpfte, weil es mir eigentlich nicht erlaubt war, alleine zu laufen, verschwand das stolze Grinsen nicht von meinen Lippen. Saskia verpackte all meine Gipse und Nähte wasserfest, dann half sie mir in die Badewanne und wusch mich. Wie immer starrte ich dabei stur geradeaus und ließ sie machen, denn ich hasste diese Hilflosigkeit und gleichzeitig wollte ich die Verletzungen nicht sehen. Meine Familie, Lara und Elias versicherten mir immer wieder, dass ich gar nicht so schlimm aussah, aber seit ich mich einige Tage nachdem ich aufgewacht war in der Innenkamera meines Handys gesehen hat, glaubte ich ihnen das nicht mehr. Stumm ließ ich die Dusche über mich ergehen, biss die Zähne zusammen, wenn irgendwas weh tat und wartete einfach nur, bis Saskia mich wieder aus der Badewanne hob, abtrocknete und anzog. Und so saß ich auch jetzt wieder in ein Handtuch gewickelt auf einem Stuhl und Saskia suchte mir frische Klamotten heraus. "Die dunkelgraue Jogginghose und das blaue T-Shirt?", fragte sie und hielt beides hoch, doch ich schüttelte den Kopf und die Pflegerin seufzte. "Rebecca, du kannst nicht immer nur die weiten Pullis anziehen, die dein Freund dir gebracht hat. Irgendwann musst du dir deine Verletzungen auch mal ansehen." "Ja, irgendwann. Aber nicht heute. Ich möchte den schwarzen Nike-Pulli anziehen." Ein weiteres Mal seufzte Saskia, dann kam sie meiner Aufforderung nach und zog mir Socken, Unterwäsche, die dunkelgraue Jogginghose und den schwarzen Hoodie an. Sie schob den Rollstuhl neben mich und ich war von der Physiotherapie zu erschöpft, um es selbst zu versuchen, weshalb ich mich einfach stumm hineinsetzte und mir ins Bett helfen ließ. "Ich bringe dir gleich das Mittagessen", ließ Saskia mich wissen und ich nickte leicht. Als sie endlich das Zimmer verlassen hatte, ließ ich meinen Kopf zur Seite fallen und schloss müde die Augen. In der nächsten Sekunde riss ich sie wütend wieder auf. Ich wollte nicht müde sein, verdammt! Ich war müde ohne etwas getan zu haben und das hasste ich! Sauer auf mich selbst griff ich nach meinem Handy und sah, dass Elias mir geschrieben hatte. Er wollte in einer Stunde vorbeischauen, aber selbst diese Nachricht entlockte mir kein Lächeln. Ich war einfach nur kaputt und wollte meine Ruhe haben, so wie immer in den letzten Wochen. Es klopfte und Saskia kam mit einem Tablett voller Essen herein, das genauso widerlich aussah wie immer. Sie stellte es auf meinen Beistelltisch und sah mich auffordernd an. "Dieses Mal isst du bitte auch was. Wenn du auf Nahrung verzichtest, kannst du nicht stärker werden." "Werde ich doch sowieso nicht", entgegnete ich kühl und schaute in die andere Richtung. Weil sie wusste, dass es sinnlos war, jetzt eine Diskussion anzufangen, verließ die Pflegerin einfach wortlos das Zimmer und ließ mich mit meiner schlechten Laune allein. Ich ärgerte mich ja selbst darüber, dass ich so schlecht drauf war, aber ich schaffte es einfach nicht, mich aufzurappeln. Was war mit der alten Rebecca passiert? Die mit einer Gehirnerschütterung und Schmerzen noch für ihre Familie gekocht und sich um alles gekümmert hatte? Seit wann war ich so schwach und ließ mich so gehen? Frustriert starrte ich die Wand an und versuchte, jegliche Gedanken aus meinem schmerzenden Kopf zu verbannen. Irgendwann klopfte es erneut an der Tür und Elias betrat den Raum. Lächelnd lief er zu mir und küsste mich, dann setzte er sich neben das Bett und entdeckte das unangerührte Essen. "Hast du keinen Hunger?" Ich schüttelte den Kopf. "Das Essen hier schmeckt furchtbar. Vielleicht sollte ich nachfragen, ob ich ab morgen für die Leute kochen darf, damit niemand sich mehr fragen muss, welchen Matsch er da eigentlich auf dem Teller hat." Elias schwieg einen Moment, dann erhellte sich sein Gesicht. "Ich bring dir morgen einfach was zu Essen mit. Worauf hast du Lust?" Ich zuckte die Schultern und versuchte leicht zu lächeln. "Überrasch mich." "Alles klar, da fällt mir bestimmt was ein. Wie war dein Tag sonst so? Hattest du heute Morgen wieder Physiotherapie?" "Ja, war wie immer." Aufmunternd lächelte mein Freund mich an. "Ich weiß, du denkst, du würdest keine Fortschritte machen, aber du machst welche. Das geht eben nicht von jetzt auf gleich, sondern braucht seine Zeit." Ich nickte schwach und wechselte dann das Thema. "Wie war denn dein Tag? Irgendwas besonderes in der Schule? Außer, dass ich immer noch Klausuren verpasse?" "Heute hab ich die Matheklausur verhauen, aber ich war nicht der einzige. Die guten Noten aus dem ersten Halbjahr kann ich definitiv nicht halten. Ach ja, und ich hab dir natürlich wieder alle Arbeitsblätter und Kopien der Hefteinträge mitgebracht." Er kramte in seinem Rucksack und drückte mir dann einen Stapel Blätter in die Hand, den ich kurz überflog und dann neben mich auf den Nachttisch legte. "Alles klar, dann lass uns jetzt über die Matheklausur reden. Was war die erste Aufgabe?"

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt