Hin- und hergerissen

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Zwei Nächte hatte ich nicht geschlafen, zwei Tage lang in der Schule kein bisschen aufgepasst und jetzt lag ich hier vor dieser freundlich lächelnden Frauenärztin, die mir eventuell die schlimmsten Nachrichten meines Lebens überbringen würde. Ich hatte Dr Stöckel gerade heraus gesagt, was ich vermutete und dass ich keinem Billigtest aus der Drogerie vertrauen würde. Sie hatte mich dennoch einen Schnelltest machen lassen und jetzt griff sie nach einem Ultraschallgerät. "So, dann wollen wir mal nachschauen, ob da etwas zu sehen ist." Sie schob den Bildschirm so, dass auch ich ihn sehen konnte und fuhr über meinen Unterleib. Irgendwann blieb sie stehen und deutete auf das Bild. "Es ist kaum zu sehen, aber Sie haben richtig vermutet. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind schwanger." "Ich will abtreiben", war das Erste, was ich über die Lippen brachte. Dr Stöckel erstarrte und sah mich durchdringend an. "Sie sollten keine übereilten Entscheidungen treffen. Schlafen Sie erstmal eine Nacht darüber und machen Sie sich Gedanken. Sprechen Sie mit dem Vater des Kindes, wenn Sie möchten. Aber bitte treffen Sie keine vorschnelle Entscheidung." Ich schluckte, dann schaute ich wieder auf den Bildschirm. "Wie weit bin ich?" "Sechste Woche würde ich sagen." Kurz rechnete ich nach und es passte. Paul war vor eineinhalb Monaten bei uns gewesen. Fast hätte ich den Kopf geschüttelt und über meine eigene Dummheit gelacht. Ich hatte noch nie mit jemand anderem geschlafen und mir war auch kein Engel erschienen, der mich auf eine jungfräuliche Geburt vorbereitet hatte, also musste es von Paul sein. "Ich drucke Ihnen das Ultraschallbild aus und möchte Sie bitten, sich einen Termin für nächste Woche geben zu lassen. Bis dahin können Sie sich ganz in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll." Ich nickte bloß, irgendwie schien das alles so unwirklich zu sein. Aber was hatte ich eigentlich erwartet? Es war eher ein Wunder, dass sowas nicht schon früher passiert war, immerhin hatte Paul sich vor fast vier Jahren zum ersten Mal an mir vergangen. Schweigend ließ ich das Ultraschallbild in meiner Hosentasche verschwinden, dann verließ ich die Arztpraxis und wusste nichts mit mir anzufangen. Mit langsamen und irgendwie unsicheren Schritten machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Auch während der Fahrt kam mir alles so vor, als würde es nicht wirklich passieren. Erst Schritt für Schritt realisierte ich, was das bedeutete. Ich war schwanger von Paul. Ich war schwanger von dem Mann, der sich seit Jahren an mir verging. Ich war schwanger von meinem Onkel. War ich nicht rechtlich sogar gezwungen, abzutreiben? Und selbst, wenn es nicht so war, musste ich nicht schon deshalb abtreiben, weil ich dieses Kind hassen würde? Entschlossen schüttelte ich den Kopf. Ich konnte meinen Körper nicht 9 Monate lang mit einem Wesen teilen, das so entstanden war. Zur Adoption wollte ich es aber auch nicht freigeben, denn Kinder sollten zu jeder Zeit mit elterlicher Liebe aufwachsen. Aber konnte ich wirklich ein Leben beenden? War eine Abtreibung nicht Mord? Verzweifelt raufte ich mir die Haare und hatte noch keine Lösung gefunden, als ich unser Haus erreichte. Erschöpft schloss ich die Tür auf und lief hoch in mein Zimmer, wo ich mich gegen die Wand lehnte und spürte, wie es in meinen Augen zwickte. Aber ich durfte nicht weinen, ich musste mich um meine Familie kümmern. Entschlossen atmete ich tief durch, dann stieß ich mich von der Wand ab und versteckte das Ultraschallbild in meiner Nachttischschublade. Kurz kontrollierte ich mein Gesicht in der Innenkamera meines Handys, dann lief ich zu Tabeas Zimmer. "Hallo Prinzessin. Wie weit bist du mit den Hausaufgaben?", erkundigte ich mich und meine kleine Schwester seufzte. "Ich hab alles gemacht, aber Mathe versteh ich einfach nicht!" Schmunzelnd ging ich zu ihrem Schreibtisch und sah mir dei Aufgaben an. "Keine Sorge, ich helf dir. Rück mal ein bisschen, damit ich mich neben dich knien kann."

"Du siehst noch genauso fertig aus, wie Anfang der Woche", stellte Lara fest und musterte mich besorgt. Ich winkte ab und bemühte mich um ein Lächeln. "Mir gehts gut, wirklich." Lara schaute mich ernst an. "Du nennst dich meine beste Freundin und trotzdem lügst du mir direkt ins Gesicht." Die Wahrhaftigkeit ihrer Aussage raubte mir für einen Moment den Atem, dann schluckte ich. "Es tut mir Leid, aber es gibt eine Sache, über die ich einfach nicht reden kann und an die ich nicht mal denken will. Und im Moment ist alles etwas kompliziert und diese beiden Dinge hängen zusammen, deshalb geht es nicht. Deshalb kann ich es dir nicht sagen. Weil ich es nichtmal mir selbst sagen kann. Es tut mir so Leid, Lara." "Guten Morgen Mädels." Elias unterbrach uns mit einem breiten Grinsen und schaute dann verwirrt zwischen uns hin und her. "Komme ich ungünstig?" Lara schüttelte den Kopf und wendete ihren Blick von mir ab, um Elias anzulächeln. "Nein, keine Sorge. Lass hören, was steht an?" Ich wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war, aber während des restlichen Tages hatte ich keine Möglichkeit, das Gespräch nochmal aufzugreifen. Nach der letzten Stunde bekam ich schließlich eine Whatsapp von Lara. Erleichtert atmete ich auf. Für sie war es okay, aber sie hoffte, dass ich es irgendwann schaffen würde, darüber zu sprechen. Ich bedankte mich, dann beeilte ich mich nach Hause zu kommen, um Mittagessen zu kochen. Während ich eine Stunde später am Herd stand und im Topf mit der Tomatensoße rührte, ließ ich meine Gedanken schweifen. Für einen kurzen Moment stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich das Baby behalten würde. Wenn es aufwachsen würde wie eines meiner Geschwister. Immerhin war es knapp elf Jahre jünger als Tabea, das war ein ähnlich großer Altersunterschied wie zwischen Timo und Tabea. Doch in der nächsten Sekunde verwarf ich diesen Gedanken wieder, denn in meiner Traumwelt tauchte Paul auf. Sofort schüttelte ich hektisch den Kopf und versuchte mich wieder aufs Kochen zu konzentrieren, doch die Gänsehaut und der Schreck ließen sich nicht mehr vertreiben. Und wieder stellte ich fest, dass ich noch immer keine Lösung gefunden hatte. Irgendetwas in mir wollte dieses Baby nicht gehen lassen. Und dann war da auch noch die Bibel. Seit ich klein war, hatte ich gelernt, dass Gott uns geschaffen hatte und jeden Menschen liebte. Er liebte auch Paul, obwohl mir an meinem Onkel absolut nichts liebenswürdiges einfiel und mit Sicherheit liebte er dieses Kind. Würde Gott mir vergeben, wenn ich dieses Baby umbrachte? Und würde ich mir überhaupt je selbst vergeben können, wenn ich so entschied?

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt