Zurück ins Leben

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Sanft lächelte Elias mich an. "Bist du bereit?" Ich atmete tief durch und nickte, dann half mein Freund mir aus dem Auto und ich starrte unser Haus an. Seit über einem Monat war ich nicht mehr hier gewesen, an dem Ort, an dem Paul mir das angetan hatte. Angespannt lief ich mit Elias als Stütze an meiner Seite auf das Haus zu. Als wir noch mehrere Meter entfernt waren, wurde die Tür geöffnet und Mark sah uns grinsend entgegen. Als ich ihn erreicht hatte, zog er mich kurz, aber liebevoll in seine Arme und ich sog seinen angenehm vertrauten Geruch ein. "Schön, dass du wieder zu Hause bist, Schwesterherz." "Find ich auch", murmelte ich in seine Schulter und löste mich dann von ihm. Mein Blick fiel auf die Treppe und unwillkürlich erinnerte ich mich daran, wie ich kraftlos in Pauls Armen gehangen hatte, als er die Stufen nach unten gejoggt war. Unsicher biss ich mir auf die Lippe, dann atmete ich tief durch und lief los. Die Treppe zu meistern brachte mich ziemlich außer Atem und als ich oben angekommen war, musste ich erstmal anhalten und nach Luft schnappen. Zwar konnte ich wieder gut alleine laufen, aber ein wenig anstrengender als zuvor war es immer noch. Als ich nicht mehr hecheln musste, straffte ich entschlossen die Schultern und lief auf meine Zimmertür zu. Die Klinke fühlte sich kalt unter meiner Hand an und als ich die Tür aufgestoßen hatte, schaffte ich es nicht, mich weiter nach vorne zu bewegen. Das Bett war frisch bezogen und so ordentlich gemacht, dass es nur Papas oder Marks Werk sein konnte. Direkt danach fiel mir auf, dass mein kleiner Teppich fehlte, der schräg neben dem Bett gelegen hatte und ich drehte mich fragend zu Mark um. "Was ist mit dem Teppich passiert?" Er kratzte sich verlegen an der Schläfe. "Wir haben ihn weggeworfen, weil er-" Der Dunkelblonde beendete den Satz nicht und schlagartig wurde mir klar, was der Grund gewesen war. "Ihr habt ihn weggeworfen, weil er voller Blut war, richtig?" Mark nickte leicht und ich nickte auch leicht, bevor ich wieder in mein Zimmer schaute. "Den Schreibtisch habt ihr auch aufgeräumt, wie ich sehe. Ich kann mich erinnern, dass einige Sachen heruntergefallen sind, als Paul mich dagegen geschubst hat. Habt ihr die Bettwäsche eigentlich auch weggeschmissen? Sie müsste schließlich auch blutig gewesen sein." Mark schluckte so hart, dass ich es hören konnte. "Ja, haben wir." "Schade. Ich mochte die Bettwäsche, hab sie erst vor ein paar Wochen gekauft." Elias unterbrach unser monotones Gespräch. "Sonnenschein, möchtest du nicht vielleicht reingehen?" Seine Stimme klang vorsichtig und zugleich unterschwellig flehend, aber als ich erneut in den Raum vor mir schaute, wurde mir klar, dass ich es noch nicht konnte. Also schüttelte ich den Kopf. "Nein, ich möchte nicht reingehen. Ist es okay, wenn ich erstmal bei dir im Gästezimmer schlafe?" "Natürlich. Ich bringe deine Tasche aus dem Krankenhaus einfach direkt dorthin, okay?" "Okay. Ich kümmere mich dann jetzt wohl mal um das Mittagessen." Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich zuckte kurz zusammen, bis ich merkte, dass es Marks Hand war. "Du musst dich nicht ums Essen kümmern. In erster Linie musst du dich jetzt mal ausruhen und wieder zu Kräften kommen." "Aber-" "Nichts aber. Ich weiß, du willst dich immer um uns alle kümmern, aber es ist völlig okay, sich erstmal nur um eine Person zu kümmern und es ist absolut in Ordnung, wenn diese Person du selbst bist. Also geh jetzt am besten mit Elias ins Gästezimmer und schlaf eine Runde. Ich mach das mit dem Essen schon." "Aber was ist mit Tabea? Sie hat doch gleich Schule aus", warf ich ein und Mark lächelte mich beruhigend an. "Timo ist schon losgefahren, um sie abzuholen, Jonny hat heute lang Schule und Papa kommt nach Hause, wenn er mit dem Konfirmandenunterricht fertig ist. Wir kriegen das hin, Große. Und jetzt geh dich ausruhen." Ich nickte schwach und folgte dann der Aufforderung meines Bruders, doch schlafen konnte ich nicht. Stattdessen lauschte ich den Geräuschen im Haus, dem Klappern der Töpfe in der Küche, dem Zuschlagen der Haustür, der aufgeregten Stimme meiner kleinen Schwester, den besorgten Worten meines Vaters, als er sich nach mir erkundigte und dem glücklichen Lachen, als Jonny nach Hause kam und Kai dabei hatte, mit dem er mittlerweile zusammen war. Es schien, als hätte meine Zeit im Krankenhaus auch etwas gutes bewirkt, nämlich den Familienzusammenhalt verstärkt. Dieser Gedanke schaffte es, mich für den Bruchteil einer Sekunde zum Lächeln zu bringen.

Keuchend schreckte ich hoch und schaute mich in dem dunklen Zimmer um. Als mir klar wurde, dass alles in Ordnung war und es Elias war, der ruhig atmend neben mir lag, entspannte ich mich ein wenig und ließ mich zurück ins Kissen fallen. Wie jede Nacht hatte ich einen Albtraum von Paul gehabt und im Gegensatz zum Krankenhaus konnte ich hier nicht einfach eine Schwester rufen und um eine Schlaftablette bitten. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und mein Blick fiel auf meine zitternden Hände. So konnte es nicht für immer weitergehen, oder? Mit unzähligen schlaflosen Nächten und Albträumen, die mich folterten? Das durfte nicht passieren, das durfte ich nicht zulassen. Entschlossen stand ich auf und verließ das Gästezimmer. Meine nackten Füße hinterließen keine Geräusche, während ich die Treppe nach oben ging und dann hatte ich mein Ziel schneller als erwartet erreicht. Ich hielt den Atem an, während ich die angelehnte Tür zu meinem Zimmer vollständig aufstieß und mit der Hand nach dem Lichtschalter tastete. Die Energiesparlampe brauchte ein paar Sekunden, dann erhellte sie das Zimmer vollständig. Ich biss mir angespannt auf die Lippe, dann betrat ich mit langsamen, kleinen Schritten den Raum. Mein Blick fiel auf den Schrank und für einen Moment glaubte ich, Blutflecken am unteren Ende zu erkennen, wo Paul meinen Kopf dagegen geschlagen hatte, doch als ich blinzelte waren die Schatten verschwunden und ich sah stattdessen zum Schreibtisch. Automatisch fuhr meine Hand zu meinem Unterbrauch, und an die Stelle, wo man noch wochenlang einen großen blauen Fleck gesehen hatte, weil ich gegen die schwere Platte geknallt war. Wie Blitze kamen alle Erinnerungen auf einmal zurück und schienen mich zu ersticken, sodass ich hektisch nach Luft schnappte. Schwarze Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen und alles verschwamm irgendwie. Ich stützte mich panisch am Türrahmen ab und beugte mich leicht vor, doch das Gefühl, als würde mir jemand die Luft abschnüren, hörte nicht auf. Vor meinem inneren Auge sah ich Paul, der auf mich hinabsah und den Griff um meinen Hals noch verstärkte. Entsetzt riss ich die Augen auf und schnappte japsend nach Luft, dann erschien ein anderes Gesicht in meinem Blickfeld und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass dieses Gesicht real war. "Timo", keuchte ich mit Tränen in den Augen und mein großer Bruder nickte und nahm meine Hände in seine. "Alles gut, ich bin hier, Becca. Dir geht's gut, du bist nicht in Gefahr. Es ist alles okay, Paul ist nicht hier. Dir kann nichts passieren." Langsam wurde meine Atmung ruhiger und schließlich sah ich Timo einfach nur stumm an. Und er tat das Beste, was er in diesem Moment machen konnte: Er machte das Licht in meinem Zimmer aus und nahm mich in den Arm. Als wäre er mein Anker, klammerte ich mich an ihn und lauschte seinem beruhigenden Herzschlag. "Du musst da nicht alleine durch", flüsterte er mir sanft ins Ohr, "Du musst nicht alleine wieder in dein Zimmer gehen. Wir sind alle für dich da, Große." "Wie soll das weitergehen? Wie soll alles wieder normal werden, wenn ich es nicht einmal schaffe, in mein eigenes Zimmer zu gehen?" "Im Moment ist es nicht dein Zimmer. Im Moment ist es der Ort, wo du etwas schreckliches und traumatisches erlebt hast. Es ist der Ort, an dem du vergewaltigt und zusammengeschlagen wurdest. Wiederhol das." Irritiert blinzelte ich. "Wieso soll ich das wiederholen?" "Weil ich genau weiß, dass du selbst das Wort Vergewaltigung noch nie ausgesprochen hast. Aber genau das ist es, was dir jahrelang angetan wurde. Dir wurde gegen deinen Willen Gewalt angetan. Also sag es." Durchdringend schaute Timo mich an und ich erwiderte seinen Blick. Er hatte Recht. Ein Teil von mir hatte immer geglaubt, es sei weniger schlimm, wenn ich es nicht beim Namen nennen musste, aber dem war nicht so. Eine Träne lief meine Wange hinunter, doch ich wischte sie nicht weg, sondern sah weiterhin meinen großen Bruder an. "Ich wurde- Ich- Ich wurde-", mit einem beruhigenden und zugleich auffordernden Lächeln drückte Timo leicht meine Hand und ich atmete tief durch, bevor ich aussprach, was ich so lange nicht hatte wahrhaben wollen, "Ich wurde vergewaltigt." In diesem Moment brach ich in Tränen aus und Timo zog mich erneut in seine Arme und hielt meinen vor Schluchzern bebenden Körper fest, sodass ich keine Angst haben musste, den Halt zu verlieren. Wir standen einfach nur da und ich weinte. Sekunden, Minuten, Stunden. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, dass ich es überstanden hatte. Es war vorbei. Diese schreckliche Zeit lag jetzt hinter mir und ich konnte von vorne anfangen. Als mir das schließlich klar wurde, war es, als bekäme ich zum ersten Mal seit vier Jahren, seit der ersten Vergewaltigung, wieder richtig Luft. Als wäre ich erst jetzt wieder lebendig und könnte ins Leben zurückkehren.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt