Wir reden nie wieder darüber

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"Bist du bereit?" Ich nickte entschlossen, obwohl mein Herz mir bis zum Hals pochte. Als würde sie mein Gefühlschaos spüren, griff Lara nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger, dann schaute sie mich aufmunternd an. "Du schaffst das. Ich bin die ganze Zeit bei dir, okay?" "Danke. Für alles." "Dafür musst du mir nicht danken. Du bist meine beste Freundin, schon vergessen? Ich stehe immer an deiner Seite und lass dich nicht allein." "Lass es uns nochmal durchsprechen", bat ich und Lara nickte. "Deine Familie glaubt, dass du bei mir übernachtest und meine Eltern glauben, dass ich bei dir übernachte. Wir gehen jetzt gleich zur Anmeldung, dann wirst du zu einem Zimmer gebracht und musst die Tabletten nehmen. Danach musst du zur Sicherheit 24 Stunden hierbleiben, aber ich werde die ganze Zeit bei dir sein. Dann gehen wir raus und verlieren nie wieder ein Wort darüber. Okay?" Ich nickte. "Okay." Entschlossen lief ich auf die Klinik zu und Lara ließ meine Hand nicht los, sie hielt ihr Versprechen. Sie half mir in das seltsame Krankenhaushemd und brachte mir Wasser, um die Tabletten herunterzuschlucken. Die Ärztin hatte alles nochmal erklärt und mich auf die Nebenwirkungen hingewiesen, jetzt lag ich hier und versuchte meine Unterleibskrämpfe zu ignorieren. Lara lag neben mir im Bett und redete und redete, um mich abzulenken und es half tatsächlich ein wenig. Mein Blick fiel auf unsere verschränkten Hände und ich war ihr zum wiederholten Male unendlich dankbar dafür, dass sie mich nicht allein ließ.

Irgendwann klopfte es an der Tür und eine Schwester schaute herein. "Ihr Bruder ist hier, um Sie zu besuchen." Erschrocken starrte ich sie an. "Was?" "Ihr Bruder ist hier. Markus Lorenzen ist doch ihr Bruder, oder?" Ich nickte und spürte, wie Tränen in meine Augen traten, als Mark den Raum betrat. Die Schwester ließ uns wieder allein und Mark stand nicht eine einzige Sekunde untätig herum. Er lief zum Bett, streifte sich die Schuhe von den Füßen und krabbelte zu Lara und mir ins Bett. Es wurde eng, aber das war egal. Ich lehnte mich neben Mark, der jetzt meine noch freie Hand in seine nahm und mir mit der anderen sanft durch die Haare strich. Leise begann er zu summen und ich erkannte schon nach wenigen Sekunden, dass es das Schlaflied war, was Mama uns früher immer gesungen hatte. Meine Augenlider wurden schwer und ich döste leicht ein, fühlte mich sicher und geborgen. Lara und Mark waren hier, sie passten auf mich auf, ich war nicht allein. Und obwohl es so eine dunkle Situation war, war es für diesen kleinen Moment strahlend hell.

"Geht's?" Ich nickte und atmete tief durch, dann verließen wir das Zimmer. Mark war vor ein paar Minuten wiedergekommen, denn ich hatte ihn nicht schwänzen sehen wollen. Jetzt lief er neben mir und trug meine kleine Tasche, während Lara auf meiner anderen Seite lief. Die beiden waren wie meine Stütze und ich schaffte es, erhobenen Hauptes die Klinik zu verlassen. An der Bushaltestelle verabschiedete ich mich mit einer langen Umarmung von meiner besten Freundin. "Danke. Für wirklich alles. Ich hab dich lieb." "Ich hab dich auch lieb. Und wenn irgendwas ist, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, dann ruf mich an oder schreib mir! Ich bin immer, wirklich immer für dich da." Ich nickte, dann verabschiedete Lara sich auch noch mit einer kurzen Umarmung von Mark, bevor sie in ihren Bus stieg. Mein Bruder und ich mussten auf den nächsten warten, der in die anderen Richtung fuhr. Während wir hier standen und die Autos und Menschen an uns vorbeirasten, warf ich Mark einen Seitenblick zu. Dieser Junge war unglaublich und ich war unendlich stolz, wie er sich entwickelt hatte. Seit Wochen war ihm aufgefallen, dass irgendwas nicht stimmte und als ich angekündigt hatte, unter der Woche bei jemand anderem zu übernachten, war er stutzig geworden. Er hatte auf der Karte bei Snapchat nachgeschaut, wo mein Handy war und ich hatte nicht daran gedacht, diese Funktion auszuschalten. Und wie Mark eben war, hatte er sich in den nächsten Bus gesetzt und war in die Klinik gefahren. Ich wusste nicht, womit ich so einen tollen Bruder verdient hatte, aber ich war unendlich dankbar für ihn. Der Bus kam und wir stiegen ein. Eine Weile schwiegen wir, dann räusperte Mark sich. "Wir reden nie wieder darüber?" Es klang wie eine Frage nach meinem Einverständnis und ich nickte. "Wir reden nie wieder darüber."

"Leg dich ins Bett und ruh dich noch etwas aus. Ich koche das Mittagessen und falls Papa da ist, erzähle ich ihm, dass es dir nicht gut geht und du dich hingelegt hast. Aber das Schule schwänzen musst du ihm irgendwie erklären." Ich nickte schwach und lächelte. "Danke Mark. Für alles." Er erwiderte mein Lächeln, dann gab er mir meine Tasche und ich lief hoch in mein Zimmer. Erschöpft und noch immer mit leichten Unterleibschmerzen, die laut der Ärztin noch einige Tage anhalten würden, schlüpfte ich aus meinen Schuhen und lief zum Bett. Bevor ich mich daraufsetzte, öffnete ich vorsichtig die Nachttischschublade und nahm das Ultraschallbild heraus. Unwillkürlich fuhr meine Hand zu meinem Bauch, der jetzt leer war. Ich hatte erwartet, dass ich mich irgendwie schlecht fühlen würde, aber dieses Gefühl blieb aus. Ich war einfach nur erleichtert, dass es vorbei war. Entschlossen zog ich meine Hand wieder von meinem Bauch und betrachtete das Ultraschallbild ein letztes Mal, bevor ich es von oben nach unten in zwei Teile riss und in den Mülleimer warf.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt