Die Stärke einer Rebecca Lorenzen

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Elias' Sicht:

Genervt drückte ich Timo weg, der zum wiederholten Male versuchte, mich anzurufen. Was zum Henker wollte er abends um 23 Uhr von mir, nachdem ich mich von seiner Schwester getrennt hatte? Mit mir reden? Mich bitten, ihr zu verzeihen? Vielleicht wusste er längst, dass sie mit ihrem Onkel schlief und fand es gut. Beim Gedanken daran schüttelte ich mich und nahm einen großen Schluck aus meinem Colaglas. Wie hatte ich mich so sehr in Rebecca täuschen können? Ich hatte ihr vertraut, hätte ihr sogar mein Leben anvertraut. Ich war bei ihr eingezogen und nur der Gedanke an sie hatte mich davor bewahrt, den Verstand zu verlieren, als ich in Untersuchungshaft gesessen hatte. War das die rosarote Brille gewesen, wegen der ich die Wahrheit nicht erkannt hatte? Meine Gedanken wurden vom erneuten Brummen meines Handys unterbrochen. Es war Lara. Hatte Rebecca sie angerufen? Sollte sie mich davon überzeugen, dass das alles gar nicht so schlimm war? Oder war Lara noch immer genauso unwissend, wie ich vor wenigen Stunden? Ich schluckte, dann hob ich ab. "Lara, was gibt's?" "Wieso bist du nicht schon früher an dein Handy gegangen, du Idiot?", fuhr sie mich an und ich hörte, dass sie leicht weinte. "Ich hatte keinen Bock zu reden. Also, was ist los?" "Becca, sie-" "Lass mich mit der gefälligst in Ruhe!", unterbrach ich Lara sofort, "Ich will nichts mehr von diesem hinterhältigen Miststück wissen!" "Elias, sie ist im Krankenhaus!" "Was?" Augenblicklich beschleunigte sich mein Puls. "Sie ist im Krankenhaus und es sieht nicht gut aus. Mark hat mich angerufen und Timo hat versucht, dich zu erreichen." "Was ist mit ihr?" Gegen meinen Willen machte ich mir Sorgen um meine Exfreundin. "Ich weiß noch keine Details, ich bin auch gerade erst gekommen. Bitte fahr zum Krankenhaus, Elias!" "Ich bin in zehn Minuten da", ließ ich sie wissen, dann knallte ich das Geld für meine Getränke auf den Tisch und verließ rennend das Restaurant. Während der Fahrt zum Krankenhaus brach ich sämtliche Geschwindigkeitsvorgaben und schaffte die Strecke, für die man sonst 20 bis 25 Minuten brauchte, tatsächlich in etwas mehr als zehn. Im Stillen dankte ich Gott, als ich fast sofort einen Parkplatz fand und dann in das große Gebäude rannte. An der Anmeldung sagte ich meinen Namen und zu wem ich wollte, doch bevor ich eine Antwort erhalten konnte, erklang hinter mir eine bekannte Stimme. "Elias!" Ich drehte mich um und entdeckte Timo, der zwei Becher Kaffee in der Hand hielt. Außer Atem lief ich zu ihm, mein Herz pochte vor Sorge. "Was ist passiert?" Timo schluckte schwer und ich sah, dass er mit den Tränen kämpfte. "Eine Passantin hat sie in einer Gasse gefunden, schwer verletzt und bewusstlos. Sie wird jetzt operiert, aber der Arzt hat uns vorher noch gesagt, dass sie verprügelt und- und vergewaltigt wurde. Und er meinte auch, dass es Anzeichen dafür gibt, dass das nicht die erste Vergewaltigung war." Eine einzelne Träne lief dem Dunkelblonden über die Wange und mir stockte der Atem. In meinem Kopf setzte sich langsam das Puzzle zusammen und ich keuchte entsetzt, als mir bewusst wurde, dass es meine Schuld war. Ich hatte ihr vorgeworfen, freiwillig mit ihrem Onkel zu schlafen, aber vielleicht war es gar nicht so gewesen. Hatten da nicht schon Tränen in ihren Augen geglitzert, bevor ich überhaupt ein Wort gesagt hatte? "Timo, wo ist euer Onkel?" Verwirrt starrte mein Gegenüber mich an. "Paul? Keine Ahnung, ob Papa ihn überhaut schon angerufen hat. Wieso fragst du?" "Ich denke, dass er das getan hat." Die Worte auszusprechen machte es auf eine so grausame Weise real, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. "Wie kommst du darauf? Ja, er hat sie schonmal verprügelt, aber-" "Der Arzt meinte doch, es sei nicht die erste Vergewaltigung. Was ist, wenn er das schon öfter mit ihr gemacht hat? Immerhin war er regelmäßig bei euch und auch oft mit ihr allein. Und da ist noch was, was ich dir erzählen muss." Stockend berichtete ich ihm, welches Bild ich vorhin in Rebeccas Zimmer vorgefunden hatte und als ich fertig war, schwiegen wir beide, bis Timo den ersten Schock überwunden zu haben schien. "Wir müssen das meinem Vater und der Polizei erzählen. So schnell wie möglich." Wir liefen los und erreichten nach wenigen Minuten einen Raum mit vielen Stühlen, wo sich außer Rebeccas Familie niemand befand. "Papa!", rief Timo schon von weitem und Genannter kam auf uns zu. Wir behielten ausreichend Abstand zu Mark, Tabea, Jonny und Lara und erzählten ihm alles, was wir wussten und vermuteten. Das Gesicht des Pastors wurde aschfahl und er stützte sich irgendwann schwer atmend an der Wand ab. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn das stimmt, dann-" Er stockte, so ungeheuerlich schien unsere Theorie zu sein, wenn sie tatsächlich der Wahrheit entsprach. Schließlich räusperte er sich und zog sein Handy aus seiner Hosentasche. "Ich werde die Polizei anrufen und ihnen alles erzählen. Aber ich bete, dass das alles nur ein schlechter Traum ist." Er entfernte sich von uns und Timo und ich liefen zu den anderen. Lara stand auf und fiel mir um den Hals, leise Schluchzer durchzuckten ihren Körper und wir klammerten uns aneinander, als ob wir ertrinken würden. "Ich dachte, es wäre nur das eine Mal passiert", schluchzte sie und ich löste mich von ihr, um sie entsetzt anzustarren. "Was meinst du?" "Die Abtreibung. Sie sagte, sie sei vergewaltigt worden, aber wüsste nicht von wem und wolle es einfach nur vergessen. Was, wenn das derselbe Typ war?" Ein weiteres Mal an diesem Tag blieb mir die Luft weg und die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag in den Magen. "Es war derselbe Typ. Es war immer derselbe Typ. Ihr Onkel." "Was?" Entsetzt starrte Lara mich an, doch ich ignorierte sie und zog sie mit zu den Stühlen. Wir setzten uns gegenüber von Mark und Timo, Jonny und Tabea saßen etwas abseits und schienen eingeschlafen zu sein. "Wir müssen jetzt alle Fakten auf den Tisch legen, alle Zusammenhänge versuchen zu erklären. Ich glaube jeder von uns weiß irgendetwas. Jetzt müssen wir die Teile zusammensetzen, um die Wahrheit herauszufinden." "Du willst, dass wir Beccas Geheimnisse aufdecken, ohne sie vorher zu fragen?" "Wenn das hilft, damit das Arschloch, das ihr das angetan hat, im Knast landet, dann ja", entgegnete ich sofort und hatte damit alle drei auf meiner Seite. Timo seufzte und begann zu reden: "Gehen wir davon aus, dass es Paul war. Der Arzt hat gesagt, dass das nicht die erste Vergewaltigung war, was realistisch ist, wenn man überlegt, wie oft er uns immer besucht. Wir wissen auch, dass er Becca schonmal verprügelt hat, was also auch passen würde." Lara schluckte, bevor sie von Rebeccas Abtreibung erzählte. Timo schien kurz davor zu sein, jemandem eine reinzuhauen, Mark senkte nur den Kopf, denn er war damals anscheinend auch in der Abtreibungsklinik dabei gewesen. Dann erzählte ich, welches Bild ich vorhin im Haus vorgefunden hatte und schließlich seufzte Mark leise und fügte ein letztes, schmerzhaftes Detail hinzu. "Tabea hat mal gesehen, dass ich einen blauen Fleck hatte und dann hat sie erzählt, dass Becca auch immer ganz viele hat. Anscheinend hat sie Tabea erzählt, die kämen vom Spielen." Wir schwiegen. Es gab nichts, was jetzt noch hätte gesagt werden können, was das Entsetzen verringert hätte. Es war Timo, der das Schweigen schließlich brach. "Wie konnten wir es bloß übersehen? Offensichtlich wird Becca seit Jahren von Paul misshandelt und wir haben nichts gemerkt. Ich fühle mich so schuldig, als hätte ich ihr das selbst angetan." "Aber das hast du nicht", unterbrach ihn die Stimme seines Vaters, der mittlerweile zu uns gekommen war, "Wir alle können uns Vorwürfe machen, aber es geht hier um Becca. Sie würde jedem von uns eine Predigt halten, wenn wir uns jetzt für schuldig erklären würden. Sie würde wollen, dass wir nicht vergessen, wie stark sie ist. Sie würde wollen, dass wir hier sitzen und darauf vertrauen, dass sie es schaffen wird, dass sie diese Operation und alles, was danach kommt, überstehen wird."

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt