Unerwarteter Besuch (2)

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„Ich muss doch bei meinen verwaisten Nichten und Neffen vorbeischauen, deren arme Mutter morgen ersten Todestag hat." Pauls Stimme triefte nur so vor Ironie und bevor ich mich versah, hatte er sich an mir vorbei ins Haus geschoben, die Tür hinter sich geschlossen und mich am Arm gepackt. Ich kniff die Lippen zusammen, um kein Wimmern von mir zu geben. „So du kleine Schlampe, du hast heute was wieder gut zu machen, weil du Katja gesagt hast, dass sie sich von mir trennen soll.  Also los, ab in dein Zimmer." „Wir sind nicht allein", versuchte ich ihn zu täuschen, aber Pauls Griff um meinen Arm wurde nur noch stärker. „Versuch nicht mich zu verarschen. Jonny hat bei Snapchat gepostet, dass er mit allen außer dir spazieren ist!" Die Erkenntnis, dass Paul uns nicht nur aus familiärer Solidarität auf den sozialen Netzwerken folgte, sondern um uns zu kontrollieren, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Für einen Moment schien die Welt sich nicht zu drehen und diesen kurzen Augenblick nutzte mein Onkel aus und zog mich nahezu widerstandslos die Treppe hoch. Ich stolperte hinterher, dann erreichten wir mein Zimmer. Ich zog und zerrte um mich aus Pauls Griff zu befreien, aber ich hatte keine Chance. „Lass mich los! Ich will das nicht! Die anderen werden jeden Moment wieder hier sein!" „Dann sollten wir uns beeilen. Aber ich steh auf versaute Quickies mit Schlampen wie dir. Und jetzt zieh dich endlich aus!" Er schloss meine Zimmertür von innen ab und begann an meinem Oberteil zu zerren. Ich spürte, wie es in meinen Augen zu zwicken begann, ein klares Zeichen dafür, dass mein Körper weinen wollte. Aber ich hielt es eisern zurück und ließ das ganze einfach über mich ergehen. Als Paul fertig war, gab er mir einen kräftigen Schlag auf den Po und ich zuckte zusammen, dann spürte ich seine Lippen dort. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann wurde mir klar, was er tat. Er verpasste mir einen Knutschfleck. Mal wieder. Auch das ließ ich einfach über mich ergehen, doch als er auf seinen frischen Knutschfleck erneut mit der flachen Hand schlug, jaulte ich vor Schmerz auf und Paul lachte dreckig. Ich hörte, wie er sich die Hose hochzog und nahm das als Signal, mich ebenfalls wieder anzuziehen. Kaum hatte ich mir mein Shirt wieder über den Kopf gezogen, erklangen unten laute Stimmen. Offensichtlich war meine Familie gerade von ihrem Spaziergang zurückgekehrt und auch Paul bemerkte dies. Ein letztes Mal presste er seine Lippen auf meine und ließ seine Hand in meine Hose gleiten. „Verdammt, ich könnte dich auf der Stelle wieder knallen", stöhnte er erregt, dann ließ er von mir ab und schloss meine Zimmertür wieder auf. Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, aber man sah mir nichts an. Das MakeUp, das die Folgen von Pauls Fäusten verdeckte, saß noch perfekt und abgesehen von der Tatsache, dass mein Zopf etwas lockerer geworden war, weil Paul hineingegriffen hatte, sah ich aus wie vor einer halben Stunde. Tief durchatmend erneuerte ich meinen Zopf, dann folgte ich meinem Onkel die Treppe nach unten, wo er gerade Oma, Opa und meine Geschwister begrüßte. Als er zu Timo kam, warf dieser mir einen kurzen Blick zu und schien mit sich zu ringen, dann machte er einen Handschlag mit Paul, ließ sich von diesem aber nicht in eine Umarmung ziehen. Unserem Onkel war das scheinbar egal, denn er ging direkt weiter zu Opa. „Schätzchen, bist du mit deinen Hausaufgaben fertig geworden?", erkundigte sich meine Großmutter und ich nickte mit einem gezwungenen Lächeln. Alle gingen ins Wohnzimmer und ich erkundigte mich, wer einen Kaffee trinken wollte. Zu meiner Überraschung bot Timo an, mir zu helfen und wir liefen gemeinsam in die Küche. „Ist irgendwas passiert?", erkundigte er sich, kaum dass die Tür hinter uns geschlossen war. Ich erwiderte seinen Blick irritiert. „Was meinst du?" „Na Paul. Hat er dir nochmal was getan? Oder was gesagt wegen seinem letzten Besuch hier?" Ich schüttelte bloß den Kopf und widmete mich der Kaffeemaschine, Timo seufzte. „Ich verstehe nicht, wieso du den anderen nichts gesagt hast." „Jetzt gerade vor Oma und Opa? Oder Tabea, die es garantiert Papa erzählt? Oder überhaupt, einen Tag vor Mamas Todestag?", erkundigte ich mich sarkastisch und Timo schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Aber du hättest schon direkt danach was sagen können. Oder du erzählst es Jonny und Mark nächste Woche. Sie trauen Paul sowas nicht zu und ich will nicht, dass ihnen sowas auch passieren kann. Als du mir erzählt hast, was Pauls gemacht hat, da- da hatte ich echt verdammte Angst um dich", stieß er hervor und ich schaute meinen großen Bruder überrascht an. „Du hattest Angst um mich?" „Natürlich", entgegnete Timo durchdringend, „Das hätte viel schlimmer ausgehen können. Und in deiner selbstlosen Art bist du nichtmal ins Krankenhaus gegangen, sondern nur zu einer Bekannten, die Krankenschwester ist. Manchmal weiß ich nicht, ob deine Selbstlosigkeit ehrenhaft oder bescheuert ist." Ich lächelte schwach, während ich die Tassen aus dem Schrank holte. „Und ich weiß nicht, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war. Aber was auch immer es war, ich bleibe dabei. Das mit Paul ist nur ein kleines Problem, aber wenn ich daran denke, was bei Jonny und seinen sogenannten „Freunden" noch so alles hätte schiefgehen können oder was Tabea alles noch passieren kann, wenn wir nicht auf sie aufpassen. Seit Mama tot ist, ist das mein Job und die Fußstapfen, in die ich da getreten bin, sind riesig." Sanft lächelte Timo mich an, während er nach der ersten mit Kaffee gefüllten Tasse griff. „Du musst diese Fußstapfen nicht ausfüllen, das kann keiner. Aber du hast eigene Fußstapfen und für die ist dir die gesamte Familie dankbar.  Vergiss das nicht." Ohne eine Reaktion von mir abzuwarten, verließ er die Küche und ließ mich mit einem gerührten Lächeln zurück. Was auch immer es war, was ihn in letzter Zeit so einfühlsam werden ließ, ich mochte es.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt