Lügen und Gerüchte

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Paul war zwei Tage geblieben und es war das erste Mal seit Jahren gewesen, dass er zu Besuch war und mich nicht anfasste oder irgendeine widerliche zweideutige Bemerkung machte. Trotzdem war ich die ganze Zeit angespannt, was Elias nicht verborgen bleib. Wenn Paul in der Nähe war, ertrug ich einfach keine körperliche Nähe, weshalb ich es kaum aushielt, wenn Elias meine Hand nahm oder mich küsste. Ich wusste, dass er sich Gedanken machte, aber ich fühlte mich nicht in der Lage, ihm mein Verhalten irgendwie zu erklären. Timo hatte mich gestern Abend entsetzt zur Rede gestellt und gefragt, wieso ich den Vorfall, bei dem Paul mich verprügelt hatte, so heruntergespielt hatte. Meine Erklärung, dass ich Papa nicht unnötig aufregen und Tabea keine Heidenangst einjagen wollte, schien ihn nicht zu überzeugen, aber er brachte das Thema danach nicht mehr auf den Tisch. Auch Papa hatte mich nochmal zu dem Thema befragt, aber ich hatte ihm versichert, dass es mir gut ging und Paul mich gar nicht so schlimm zugerichtet hatte, wie es aus Timos Mund geklungen hatte. Mittlerweile bekam ich beinahe selbst Angst davor, wie leicht es mir fiel, meine Familie anzulügen. Hatte mich das nicht immer so sehr an Paul gestört? Dass er allen ins Gesicht log, um mit mir allein sein zu können? Und jetzt log ich selber, dass sich die Balken bogen und konnte es kaum noch kontrollieren. Was war bloß aus mir geworden? War das wirklich nur Pauls Werk oder gab es andere Gründe für diese schlechte Seite an mir?

Seufzend öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer und entdeckte Elias auf meinem Bett sitzen. Obwohl mir nicht danach war, lächelte ich ihn an, wurde jedoch sofort wieder ernst, als ich bemerkte, dass mein Freund Tränen in den Augen hatte und kein bisschen grinste. "Was ist los?", erkundigte ich mich besorgt, schloss die Tür hinter mir und näherte mich dem Bett, um mich neben ihn zu setzen. "Meine Eltern sind los. Sie erzählen der ganzen Verwandschaft, ich hätte ohne ersichtlichen Grund Ausraster gehabt und sie hätten versucht, mich zu einem Therapeuten zu schicken, aber ich wäre stattdessen einfach abgehauen. Jeder in meiner Familie denkt jetzt, ich wäre ein schrecklicher Sohn mit einem verdammten psychischen Knacks und sie rufen alle an und schreiben mir, wie scheiße sie mein Verhalten finden." Erst jetzt realisierte ich, dass die Tränen in Elias' Augen nicht von Trauer herrührten, sondern von Wut. Ich musterte seine geballten Fäuste und tat das erstbeste, was mir in den Sinn kam. Ich nahm seine rechte Faust, da sie mir am nächsten war, und umschloss sie mit meinen Händen. "Sieh mich an, Elias." Mit verschleiertem Blick kam mein Freund meiner Aufforderung nach und ich schaute ihn ernst an. "Du bist kein schlechter Sohn und erst recht kein schlechter Mensch. Du hast alles versucht, um deinen Eltern zu helfen, ohne sie in Schwierigkeiten zu bringen. Du bist so viel besser, als deine Verwandten, die dir das jetzt schreiben. Lass dir von niemandem einreden, du seist ein schlechter Mensch, denn das bist du nicht. Du bist freundlich, höflich, klug, witzig, liebevoll, sanft, hilfsbereit und noch so viel mehr, wovon deine Verwandten gar nichts wissen. Hörst du, sie wissen gar nichts. Sie kennen dich nicht so, wie ich dich kenne. Sie kennen nicht den wahren Elias." "Was macht dich so sicher, dass du den wahren Elias kennst?" Ich lächelte leicht. "Weil kein anderer, als der wahre Elias mich so ansieht, wie du es tust. Und weil kein anderer mich so küsst, wie der wahre Elias. Und weil kein anderer mich so in den Arm nimmt, wie der wahre Elias." Um ihn vollends zu überzeugen, beugte ich mich vor und legte meine Lippen auf die meines Freundes. Unter den so vertrauten Geschmack mischte sich ein salziger von Elias' Tränen, aber das war mir egal. Ich ließ seine Faust los, die sich längst gelockert hatte und legte meine Hände auf seine Wangen, bis ich keine Luft mehr übrig hatte und mich von ihm löste. Mit nur wenigen Millimetern Abstand sahen wir uns an und ich wischte Elias die Tränen aus dem Gesicht. Er lächelte schwach und sah mich liebevoll an. "Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne, Sonnenschein." Dann schloss er die Lücke zwischen uns und küsste mich erneut.

"Ihr seid so unfassbar süß zusammen. Ich glaube ich krieg bald nen Zuckerschock." Mit großen Augen schaute ich Lara an, die mich schmunzelnd in die Seite boxte. "Im Ernst, wollt ihr es immer noch verheimlichen, wenn die Schule am Montag wieder losgeht?" "Ich denke schon. Wir sind ja erst zwei Wochen zusammen und es gab ja schon vor den Ferien total viele Gerüchte über uns." Lara seufzte. "Tja, du hättest dir halt nicht gleich den bestaussehendsten Typen der Schule angeln sollen. Dann gäbe es weniger Gerüchte und Getratsche." Ich seufzte ebenfalls. "Stimmt. Aber ich habe mich nicht in Elias verliebt, weil er so gut aussieht, sondern weil er einfach- weil er Elias ist. Keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll, aber es ist, als wäre er mein Anker, mein Ruhepol, mein Rückzugsort. Verstehst du, was ich meine?" "Ja, und das klingt so romantisch, dass ich dich gerade am liebsten in deine roten Bäckchen kneifen würde." Lachend rückte ich ein Stück von meiner besten Freundin weg und sie musste ebenfalls lachen. Nachdem wir uns beruhigt hatten, wechselte Lara unvermittelt das Thema. "Dein Vater predigt morgen zum ersten Mal wieder, richtig?" Ich nickte und wurde sofort nervös. Lara merkte das und lächelte mich aufmunternd an. "Das wird schon. Es scheint ihm doch wirklich besser zu gehen und es ist ja erstmal nur morgen. Du meintest ja, dass seine nächste Predigt dann erst in zwei Wochen ist, also hat er zwischendurch genug Zeit, um zu reflektieren. Mach dir nicht so viele Sorgen." Ich nickte bloß schwach. "Apropos Sorgen, ich mach mir auch ein bisschen welche", verkündete Lara plötzlich und ich schaute sie besorgt an. "Wieso?" "Wegen dir. Ich sehe, wie verliebt du in Elias bist und er auch in dich und ich weiß, dass ihr erst zwei Wochen zusammen seid, aber die meisten Paare in unserem Alter werden ziemlich schnell intim in ihrer Beziehung." "Ich habe nicht mit Elias geschlafen, wenn du darauf hinaus willst." Lara biss sich auf die Lippe. "Das dachte ich mir. Weiß er mittlerweile über deine Gründe für die Abtreibung Bescheid?" Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Lara seufzte. "Du musst mit ihm darüber reden. Elias hatte schon mehrere Beziehungen vor dir und wenn man den Gerüchten vertrauen kann, dann hat er auch im Bett schon Erfahrung gesammelt. Du solltest mit ihm reden, bevor er etwas tut, was dir vielleicht nicht gefällt." Ich biss mir auf die Lippe und nickte schwach. Lara hatte Recht. Ich musste in vielerlei Hinsicht dringend mit Elias reden, aber mein Inneres sträubte sich dagegen, denn ich konnte ihm nicht alles erzählen und wenn ich ihm nicht alles erzählte, musste ich ihn genauso wie Lara anlügen. Ja, das war ich geworden. Eine feige Lügnerin.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt