Verborgene Wahrheiten (2)

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Erneut tippte ich Jonnys Handynummer ein und lauschte dem endlosen Tuten bis die Stimme seiner Mailbox mich zusammenzucken ließ. Frustriert legte ich auf und schaute Timo kopfschüttelnd an. "Er geht immer noch nicht dran. Langsam mach ich mir echt Sorgen." Timo seufzte und nickte. "Ich mir auch. Aber ich hab auch keine Ahnung, wie wir ihn finden könnten. Dieses Mal hat er nämlich daran gedacht, seinen Standort bei Snapchat auszuschalten." Ich biss mir auf die Lippe und überlegte kurz, bis mir eine Idee kam. "Vielleicht weiß Kai, wo Jonny sein könnte. Kennst du seinen Nachnamen oder seine Adresse?" "Seine Adresse. Ich hab ihn neulich nach Hause gefahren." "Okay, dann fahren wir da jetzt hin", entschied ich, doch mein großer Bruder hielt inne und legte den Kopf schief. "Bist du dir sicher, dass du das machen willst? Du hast doch im Moment genug andere Sorgen." Ich schluckte. "Du meinst wegen Elias? Ich habe alles getan, was ich konnte, um ihm zu helfen. Ich hab sogar gebetet, zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten. Was mit ihm passiert, liegt nicht in meiner Hand und jetzt gerade braucht Jonny mich." "Okay, ich hole die Autoschlüssel." Mit diesen Worten verschwand Timo und ich schnappte mir meine Jacke und Schuhe, sowie Handy und Hausschlüssel. Dann eilte ich die Treppe nach unten und schaute auf die Uhr. In etwa einer Stunde würde Papa von der Arbeit nach Hause kommen und wir hatten ihm noch kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass Jonny abgehauen war. Ich seufzte leise, dann ertönten Timos Schritte hinter mir. "Mark passt auf Tabea auf und erklärt Papa alles, falls wir bis dahin nicht zurück sind." "Alles klar, dann los."

Vorsichtig drückte ich auf den Klingelknopf und es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde. Mir stockte der Atem, als ich Kais knallrote Wange und Augen sah. "Was wollt ihr hier?" "Jonny ist abgehauen und wir können ihn nicht erreichen. Hast du eine Idee, wo er sein könnte?" "Nein, hab ich nicht." Sanft schaute ich den Dunkelhaarigen an. "Bitte Kai, was auch immer zwischen euch vorgefallen ist, ich weiß, dass ihr einander wichtig seid. Es kann dir nicht egal sein, dass dein Freund verschwunden ist." Tränen traten in Kais Augen und ich fragte mich entsetzt, ob ich etwas falsches gesagt hatte. "Es tut mir so Leid", schluchzte Kai und ich tat das erstbeste, was mir in den Sinn kam: Ich umarmte ihn und strich leicht über seinen Rücken. "Ich hab riesen Mist gebaut. Er hat mir eine Ohrfeige gegeben und mich angeschrien, dass ich sofort das Haus verlassen soll." "Was hast du denn getan?", fragte ich vorsichtig nach und Kai löste sich von mir, um zwei Schritte von mir zu weichen. "Ich- ich hab- ich hab ihn geküsst." Überrascht riss ich die Augen auf, denn damit hatte ich absolut nicht gerechnet. "Ich dachte- keine Ahnung, was ich dachte. Wir haben uns so gut verstanden und Jonny war so- so- besonders. Aber ich hab wohl Zeichen gesehen, die keine waren und jetzt habe ich meinen besten Freund verloren." "Hey, das wird schon wieder. Wenn wir Jonny gefunden haben, dann rede ich mit ihm und ihr bekommt das geregelt", versuchte ich Kai aufzuheitern, aber er schüttelte schwach den Kopf. "Ich will nicht, dass irgendwas geregelt wird. Ich will mit Jonny zusammensein. Aber das wird wohl eine Wunschvorstellung bleiben." Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und Timo offensichtlich auch nicht, denn ich hörte keinen Mucks von ihm. Ich beschloss, mich um das dringendere Problem zu kümmern. "Weißt du, wo er sein könnte?" Kai nickte. "Es gibt da einen Ort, wo wir zwei Mal zusammen waren. Er hat ihn mir gezeigt und meinte, das sei sein Lieblingsort in Beckshofen, weil es etwas Ähnliches in eurer alten Heimat gab und er immer dort war." Ich verstand sofort, was er meinte. "Einen Hochsitz. Jonny ist schon als kleiner Junge auf jeden Hochsitz geklettert, an dem wir vorbeigekommen sind. Kannst du uns zeigen, wo er ist?" Kai nickte, griff neben sich nach einem Schlüssel und zog die Haustür hinter sich zu. So gefasst wie möglich rieb er sich das Gesicht trocken und folgte Timo und mir zum Auto. Wir fuhren etwa zehn Minuten, dann führte Kai uns weitere zehn Minuten durch den Wald bis zu einer Licht. Schon wenige Meter bevor wir unser Ziel erreichten, hörte ich Musik und wusste im selben Moment, dass Jonny betrunken sein würde. Denn dieses Lied hörte er nur im Rausch. "Wartet hier", wies ich Timo und Kai an und näherte mich dem Hochsitz alleine. Vorsichtig kletterte ich hoch und entdeckte meinen kleinen Bruder mit einer Wodkaflasche in der Hand und zwei leeren Bierflaschen neben sich. Ich setzte mich neben ihn und er schaute mich aus verheulten Augen an. "Was machst du hier?" Seine Stimme klang so kraftlos und verletzt, dass es mir beinahe die Kehle zuschnürte. "Timo und ich haben dich gesucht. Wir sind zu Kai gefahren und er hat uns hierhergebracht. Wir drei haben uns Sorgen um dich gemacht, weil du nicht erreichbar warst." Erschrocken sah Jonny mich an. "Ihr habt mit Kai geredet?" "Ja, haben wir. Er hat uns erzählt, was passiert ist." "Ich bin nicht schwul!", sagte Jonny sofort so überzeugend wie möglich, aber es war, als ob ich spüren könnte, wie sehr ihn seine eigene Aussage verletzte. "Wirklich nicht? Ich denke, dass du das noch nicht weißt und dass genau das dein Problem ist. Du willst nicht schwul sein, aber du kannst nicht leugnen, dass du Gefühle für Kai hast. So ist es doch, nicht wahr?" Tränen traten in Jonnys Augen und er senkte den Kopf. Ich griff nach der Wodkaflasche in seiner Hand und stellte sie beiseite. "Wovor hast du Angst, Jonny?" "Dass ich es bin und dass es alles komplizierter machen wird." "Du meinst, weil Menschen dich verurteilen würden? Ich kann dir verraten, wer dich nicht verurteilen wird: deine Familie. Du kannst jederzeit mit einem von uns reden, du musst sowas nicht mit dir selbst ausmachen." "Papa ist Pastor! Du weißt ja wohl, was in der Bibel über Schwule steht! Dass sie widerlich sind und dass sie Sünder sind." "Wir sind alle Sünder. Wir alle brauchen die Vergebung von Jesus und unseren Mitmenschen. Aber du kennst deinen Vater. Er würde dich niemals verurteilen oder verachten. Er liebt dich, egal ob du auf Mädchen oder auf Jungs stehst. Und dasselbe gilt für Timo, Mark, Tabea und mich. Und es gibt da noch jemanden, der dich nicht verurteilen wird, weil er sich nämlich in dich verliebt hat." Jetzt lächelte Jonny schwach. "Kai." Beim Anblick seiner strahlenden Augen musste ich automatisch auch lächeln und nickte. "Er steht unten und wartet wahrscheinlich sehnsüchtig darauf, dass du zu ihm gehst." "Woher weiß ich, dass ich in ihn verliebt bin?", fragte Jonny unsicher und ich dachte kurz an Elias. "Ich weiß es, weil ich dich eben beobachtet habe, als du seinen Namen gesagt hast. Er bringt dich zum Lächeln, obwohl du traurig bist. Jemanden, der das kann, der deine Welt mit seiner bloßen Anwesenheit heller macht, den sollte man nicht mehr gehen lassen."

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt