Lügen und Geheimnisse

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"Guten Morgen, Sonnenschein", weckte Elias mich liebevoll und küsste mich sanft auf die Wange. Ich streckte mich und blinzelte vorsichtig, um zu kontrollieren, dass das Licht im Zimmer nicht zu hell war, dann öffnete ich meine Augen vollständig und lächelte meinen Freund verschlafen an. "Morgen. Seit wann bist du hier?" "Erst zehn Minuten oder so. Dein Vater ist schon aus dem Haus und in der Kirche." Ich musste grinsen. "Du hast also bloß abgewartet, bis mein Vater nicht mehr da war und hast dich dann einfach in mein Zimmer geschlichen? Du Schlawiner." Ich streckte mich erneut und richtete mich dann auf. "Wie viel Uhr ist es denn?" "Fast neun. Wollen wir frühstücken?" Ich nickte, schlug die Decke beiseite und ließ Elias in meinem Zimmer zurück, während ich mit frischen Klamotten im Badezimmer verschwand. Fünf Minuten später fand ich meinen Freund vor meinem Bücherregal stehen. Er hielt ein mir bekanntes, aber beinahe in Vergessenheit geratenes Buch in der Hand und ich riss es ihm hektisch aus der Hand, bevor er es öffnen konnte. Erschrocken schaute er mich an, während ich das Buch zurück an seinen Platz stellte. "Was war das?" "Ein altes Tagebuch von mir." "Du schreibst Tagebuch?", erkundigte er sich interessiert, doch ich schüttelte den Kopf. "Das ist lange her." "Wieso hast du aufgehört?" Ich schluckte. "Es gab nichts besonderes mehr zu erzählen. Wollen wir jetzt frühstücken gehen?" Ohne auf eine Antwort von Elias zu warten, verließ ich mein Zimmer wieder, atmete aber erleichtert auf, als ich schon wenige Sekunden später seine Schritte hinter mir hörte. Ich vertraute ihm, aber ich wollte nicht, dass er in einem Anfall von Neugierde doch noch in meinem Tagebuch herumblätterte. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ein Teil von mir Elias zwar vertraute, aber es auch immer noch einen Teil gab, der das nicht tat. Und ich wusste nicht, wie ich das ändern konnte und ob ich es überhaupt ändern wollte. Denn jemandem wirklich von ganzem Herzen zu vertrauen, bedeutete auch, dass man verletzlich wurde. Und ich wollte um jeden Preis verhindern, verletzt zu werden.

"Kinder, kommt doch mal zur Haustür!", rief Papa und ich hörte die polternden Schritte meiner Geschwister, während Elias und ich uns vom Sofa erhoben und der Aufforderung meines Vaters ebenfalls nachkamen. Als ich jedoch entdeckte, wer da neben meinem Vater in der Tür stand, blieb ich stocksteif stehen und hielt die Luft an. Elias, der ein wenig hinter mir gewesen war, knallte in mich rein und holte bereits Luft, um mich zu fragen, was los war, als er unseren Gast selbst entdeckte. Auch meine Geschwister waren bei weitem nicht so euphorisch wie sonst, wenn der Dunkelblonde zu Besuch kam. "Was machst du hier, Paul?", brach Timo schließlich die kühle Stille und mein Onkel seufzte leise. "Ich wollte mich bei euch entschuldigen. Ich hatte einfach Sorge, dass dieser Elias nicht der ist, der er vorgibt zu sein und dass das ein böses Ende nimmt. Ich war wohl zu übereifrig, als ich eurem Vater davon erzählen wollte. Das tut mir Leid und ich hoffe, ihr könnt mir vergeben." Damit hatte er uns an der Angel. Wenn jemand in dieser Familie von Vergebung sprach, hatte das sofort diesen christlichen Beigeschmack und dem zu widersprechen, fühlte sich unglaublich falsch an. Ich sah, wie meinen Geschwistern etwas ähnliches durch den Kopf ging, dann schaltete Papa sich ein. "Ich habe ein langes Gespräch mit eurem Onkel geführt und denke, ihr solltet ihm noch eine Chance geben. Wir machen schließlich alle mal Fehler." Am liebsten hätte ich ironisch aufgelacht, denn Paul war nun wirklich der Letzte, der in meinen Augen eine weitere Chance verdient hatte. Allerdings wusste nur ich, dass dies nicht seine zweite, sondern seine unzähligste Chance war. Papas Worte schienen meine Geschwister überzeugt zu haben, denn Tabea lief zu Onkel Paul und umarmte ihn. "Mach sowas nie wieder, das war echt gemein!" "Versprochen, Kleine. Es kommt nicht mehr vor." Jonny und Mark umarmten Paul nur ganz kurz, Timo schaute zu mir. Er wusste immerhin, dass unser Onkel mich verprügelt hatte. Und während er mich ansah, wurde mir klar, dass er das nicht unter den Teppich kehren würde. Es dauerte einige Sekunden bis ich realisierte, was Timo vorhatte. Sofort schüttelte ich wild den Kopf, aber er ignorierte mich. "Papa, du kennst nicht die ganze Geschichte." "Timo, das ist nicht der richtige Zeitpunkt", unterbrach ich ihn so bestimmt wie möglich, aber er schüttelte den Kopf. "Wenn es nach dir ginge, gäbe es niemals den richtigen Zeitpunkt. Aber Papa und die anderen verdienen die Wahrheit, findest du nicht?" "Du stellst das hin, als ob ich eine Lügnerin wäre", wehrte ich mich sofort. "In gewisser Hinsicht bist du das auch. Ich weiß, dass du lügst, um andere zu beschützen, aber nur weil du das für einen guten Grund hältst, muss es noch lange keiner sein." "Könnte mir jetzt mal bitte jemand sagen, worum es hier eigentlich geht?", mischte Papa sich irritiert in unsere Diskussion ein und Timo seufzte. "Paul hat Becca verprügelt." Die Augen meines Vaters weiteten sich entsetzt und er starrte mich an. "Was soll das heißen? Hat er dir eine Ohrfeige gegeben, oder-?" "Er hat sie zusammengeschlagen", fuhr Timo dazwischen, "Sie hatte überall blaue Flecken und wahnsinnige Schmerzen, ist aber nicht ins Krankenhaus gegangen, um zu verhindern, dass die Polizei wegen schwerer Körperverletzung ermittelt." Stille. Es herrschte absolute Totenstille. Papa, der zwischenzeitlich Timo und Paul angeschaut hatte, sah jetzt wieder zu mir. "Ist das wahr?" Ich hatte Tränen in den Augen und wusste, dass jetzt der Moment gekommen war, auf den ich jahrelang gewartet hatte. Jetzt war der Moment gekommen, um meinem Vater von Pauls jahrelangem Missbrauch an mir zu erzählen. Jetzt konnte ich ihn ein für allemal aus meinem Leben verbannen, indem ich Papa alles erzählte. Aber ich hielt inne. Es würde Papa das Herz brechen, wenn er das über seinen Bruder erfahren würde. Er würde vielleicht wieder zusammenbrechen oder schlimmeres. Auch meinen Großeltern würde es das Herz brechen und vielleicht würden sie mir nicht einmal glauben, wenn ich ihnen alles erzählte. Und dann fiel mein Blick auf Tabea, meine wunderhübsche und zuckersüße kleine Schwester und ich dachte daran, wie Paul sie anschaute. Wie er sie beinahe mit seinen Blicken auszog. Mein Blick wanderte zu Paul. Wir hatten einen Deal. Ich stand ihm zur Verfügung, wenn er Tabea in Ruhe ließ. Und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er es schaffen würde, sich ihr zu nähern, selbst wenn ich auspacken würde. Mein Blick wanderte zurück zu Papa und ich fasste einen Entschluss, bei dem ich mir von der ersten Sekunde an nicht sicher war, ob er sich als gut oder schlecht erweisen würde. "Ja, Timo sagt die Wahrheit. Aber zu dieser Geschichte gehört auch noch, dass ich eine Mitschuld daran trage, dass Katja sich von Paul getrennt hat und er war eben sauer deswegen. Es war auch bei weitem nicht so schlimm, wie es gerade rüberkam. Nur ein paar Prellungen und blaue Flecken, mehr nicht." "Das tut mir auch unendlich Leid", fügte Paul hinzu und schaute seinen Bruder an. "Bitte glaub mir David, das wollte ich nicht. In diesem Moment haben die Gefühle mich einfach übermannt und ich habe mich auch schon längst bei Becky entschuldigt." Papa schaute zu mir und entgegen jeglichen Willens, nickte ich. Papas Blick änderte sich und ich wusste, dass es jetzt vorbei war. Den Moment, den ich hätte nutzen sollen, hatte ich verstreichen lassen. Ich hatte Papa und allen anderen hier ins Gesicht gelogen. Ohnmächtig beobachtete ich, wie Papa und Paul ins Wohnzimmer liefen, während Timos und Elias' fassungslose Blicke sich in meine Haut brannten.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt