Grenzüberschreitung

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Ein unangenehmes Geräusch riss mich aus dem Schlaf. Ich konnte es zunächst nicht zuordnen, bis sich Elias auf der Matratze neben mir streckte und genervt knurrte. "Geh an dein Handy", erklang es dumpf aus seinem Kissen und erst jetzt realisierte ich, dass es tatsächlich das Klingeln meines Handys war, das mich geweckt hatte. Schnell griff ich danach und sah, dass ich bereits drei Anrufe von Jonny verpasst hatte. Mein Herz begann wie wild zu pochen und sofort war ich hellwach und wählte seine Nummer. Schon nach wenigen Sekunden hob er ab. "Endlich gehst du ran!" "Jonny, was ist los?" Bei seinen nächsten Worten bemerkte ich einen weinerlichen Unterton, der mich unweigerlich an den 5-jährigen Jonny erinnerte, der sich das Knie aufgeschlagen hatte. "Josh gehts richtig beschissen und ich weiß nicht, was ich machen soll." "Was soll das heißen? Hatte er schlechtes Essen oder was?" "Verdammt, Becca, er hat zu viel getrunken! Irgendwie sind es immer mehr Leute geworden und viele haben Alk mitgebracht und Josh hat sich schon mega oft übergeben und trotzdem weitergetrunken. Jetz liegt er seit einer Viertelstunde bewusstlos rum und ich weiß nicht, was ich machen soll." Ich schluckte kräftig, dann seufzte ich leise. "Da sind doch bestimmt 18-Jährige auf deiner Party, oder? Die sollen deinen Kumpel ins Krankenhaus fahren!" "Hier ist keiner von den älteren mehr. Als der meiste Alkohol leer war, sind viele abgezogen." Ich versuchte meine Atmung zu kontrollieren, während sich neben mir Lara und Elias streckten und mich verwirrt ansahen. "Hast du kontrolliert, ob Josh noch atmet?" "Ja, tut er." „Gut, dann bring ihn in die stabile Seitenlage und schick mir die Adresse. Ich bin so schnell wie möglich da und rufe unterwegs einen Krankenwagen!" "Okay." Ich legte auf und bemerkte, dass meine Finger zu zitten begonnen hatten. "Was ist los?", erkundigte Lara sich besorgt. "Jonny hat angerufen, seine Party ist eskaliert und einer seiner Kumpels hat wohl viel zu viel getrunken. Elias, kannst du mich zu der Adresse fahren, bitte?" "Klar, kein Problem." "Okay, dann los!" "Ich komme mit", informierte Lara uns und wir liefen zu dritt nach draußen zu Elias' Auto. Glücklicherweise waren wir vorhin alle in unseren Jogginghosen eingeschlafen und ich zog mir nur noch schnell einen Cardigan über mein Top, bevor ich genauso wie die anderen in meine Schuhe schlüpfte. Jonny hatte mir die Adresse mittlerweile geschickt und während Elias weit überm Tempolimit durch die Straßen von Beckshofen rauschte, rief ich einen Krankenwagen. Als wir bei Jonny angekommen waren, hörte ich schon die Sirenen und sah, wie die letzten Personen sich aus dem Staub machten. "Jonny!" "Wir sind hier!", erklang die Antwort und ich rannte zu meinem Bruder, der neben einer reglosen Gestalt auf dem Boden hockte. Ich ließ mich neben ihn auf den Boden sinken und kontrollierte Puls und Atmung des bewusstlosen Jungen, dann schaute mich Jonny mit Tränen in den Augen an und ich sah, dass ihm der Schock tief in den Knochen steckte. Er schien sogar leicht zu zittern, weshalb ich meinen Cardigan auszog und ihn Jonny über die Schultern legte, bevor ich nach seiner Hand griff und sie fest drückte. "Ich bin hier, alles wird gut." Der Dunkelblonde nickte bloß schwach, dann wurden die Sirenen lauter und Türen wurden zugeschlagen. Ein männlicher und ein weiblicher Sanitäter liefen zu uns und stellten Jonny ein paar Fragen, während sie sich um Josh kümmerten. Ich packte meinen Bruder an den Schultern und zog ihn hoch, damit wir den Sanitätern Platz machen konnten. "Pass mal bitte kurz auf ihn auf." Mit diesen Worten übergab ich Jonny in Laras Obhut und schaute mich zusammen mit Elias um. "Das scheint ganz schön eskaliert zu sein", stellte er fest und ich konnte bloß nicken. Überall lagen leere oder halbvolle Flaschen und Plastikbecher herum, in einigen Ecken hatten sich Leute übergeben und auch eine Menge Zigarettenstummel pflasterten den Boden. Als mir ein bekannter süßlicher Geruch in die Nase stieg, seufzte ich und schaute Elias fragend an. "Hier wurde auch gekifft, oder?" "Ja, es scheint so." Ich atmete tief durch und biss mir auf die Lippe. Das war alles meine Schuld! Ich hätte Jonnys Feier organisieren und beaufsichtigen müssen. In den letzten Wochen hatte ich ja mehrfach erlebt, wie wenig Verantwortungsbewusstsein er noch hatte und dass er Gefahren oft unterschätzte. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich zuckte kurz zusammen, bis ich merkte, dass es Elias war. "Ich weiß genau, dass du dir gerade Vorwürfe machst, aber das hier ist nicht deine Schuld. Okay?" "Okay." "Gut, wir sollten zurück zu den anderen gehen. Ich glaube, die Sanitäter bringen Jonnys Kumpel gerade zum Krankenwagen." Wir liefen also wieder zu den anderen und ich ließ mir von Jonny Joshs Nachnamen geben, mit dessen Hilfe ich die Telefonnummer der Familie herausfand. Seufzend wählte ich und es dauerte einen Moment, bis jemand abhob, was um fast 5 Uhr morgens nicht verwunderlich war. "Hallo?" "Frau Reinert? Mein Name ist Rebecca Lorenzen. Ihr Sohn Josh ist mit meinem Bruder Jonny befreundet." "Ah, hallo. Wieso rufen Sie zu dieser Uhrzeit hier an?" "Es tut mir sehr Leid Frau Reinert, aber Ihr Sohn wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Er hat bei einer Party zu viel Alkohol getrunken und ist bewusstlos geworden." "Oh mein Gott! Sagen Sie mir welches Krankenhaus, damit mein Mann und ich sofort hinfahren können!" Ich nannte ihr den Namen des Krankenhauses und sie bedankte sich, dann legte sie auf und ich atmete tief durch. Erst jetzt begann ich zu realisieren, was heute Nacht eigentlich passiert war und die Wut kochte in mir hoch. "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?", fuhr ich Jonny aus dem Nichts heraus an, "Du hättest viel früher anrufen müssen! Als die ersten Leute mit Alkohol aufgetaucht sind, hättest du einen Schlussstrich ziehen müssen! Du bist seit ein paar Stunden 14, aber das ist noch lange nicht das Alter, in dem man Alkohol trinken und andere Drogen nehmen sollte! Hast du mich verstanden?" Jonny schwieg und nickte bloß mit gesenktem Kopf, aber ich hatte nicht vor, mich zu beruhigen. Er hatte riesige Scheiße gebaut, das musste ihm klar sein! "Das mit Josh hätte völlig anders ausgehen können und wir können froh sein, wenn seine Eltern uns nicht noch anzeigen wollen! Und glaub nicht eine einzige Sekunde, dass wir das für uns behalten! Ich bringe dich jetzt nach Hause und wenn Papa in ein paar Stunden aufwacht, werden wir beide die Ersten sein, die mit ihm sprechen! Du kannst dich darauf gefasst machen, dass er dir eine ordentliche Strafpredigt hält, aber du hast es nicht anders verdient. Und jetzt steig in Elias' Auto. In ein paar Stunden müssen wir hier wieder antanzen, um aufzuräumen und davor kannst du dich in keinem Fall drücken." Mit gesenktem Kopf lief Jonny zu Elias' Auto und ich atmete tief durch, bevor ich ihm zusammen mit meinen Freunden folgte. Die letzte Stunde hatte an unser aller Nerven geknabbert und das Beste, was wir jetzt machen konnten, war uns auszuruhen.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt