Erschütterungen

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Müde streckte ich mich und gähnte, dann legte ich den Kopf auf die Seite und wollte Elias wecken, aber er lag nicht neben mir und blitzartig fiel mir wieder ein, was gestern Abend passiert war. Frustriert rieb ich mir die Augen und wälzte mich aus meiner Decke. Dünne Sonnenstrahlen fielen durch die Schlitze meiner Jalousie und ich zog den Rollladen vollständig nach oben, um den Raum komplett zu erleuchten, dann schnappte ich mir aus meinem Kleiderschrank neue Klamotten und ging ins Bad. Nach einer kurzen Dusche schlüpfte ich in die bequeme Jeans und das graue T-Shirt, föhnte meine Haare und musterte mich schließlich im Spiegel. Man sah mir nicht mehr an, dass ich gestern Abend nach dem Streit mit Elias geweint hatte und das war auch besser so. Seufzend richtete ich meine Frisur, dann öffnete ich die Tür des Badezimmers und erstarrte, denn Elias stand davor und schaute mich emotionslos an. Ich schluckte. "Guten Morgen." "Morgen." "Können wir reden?", bat ich vorsichtig und mein Freund zog eine seiner Augenbrauen hoch und sah mich skeptisch an. "Ach, jetzt willst du also plötzlich doch mit mir reden?" Leise seufzte ich und griff nach Elias' Hand. "Ich will immer mit dir reden, aber ich kann es einfach nicht." Ruckartig entzog mein Freund mir seine Hand und schob sich an mir vorbei ins Badezimmer. "Ich kann nur wiederholen, was ich gestern Abend zu dir gesagt habe, Rebecca. Zu einer Beziehung gehört Vertrauen. Ich habe dir viel Zeit gegeben, aber du hast dich mir nicht anvertraut und ich weiß nicht, wie ich dir vertrauen soll, wenn es ganz offensichtlich nicht auf Gegenseitigkeit beruht." Wie ein begossener Pudel taumelte ich nach vorne, Elias schloss die Badezimmertür und ich stand allein auf dem Flur. Es war doch so gut gelaufen mit uns. Seit Elias Rückkehr aus der Untersuchungshaft waren wir mehrere Male aus gewesen und hatten praktisch durchgehend Zeit miteinander verbracht. Die ganze Zeit hatte es in meinen Augen kein Anzeichen dafür gegeben, dass mein Freund nicht glücklich mit unserer Beziehung war und dann hatte er gestern Abend aus heiterem Himmel verkündet, dass wir miteinander reden mussten und dass er mir nicht vertrauen konnte, weil er sich sicher war, dass ich ihm nicht alles anvertraut hatte. Er fühlte sich von mir weggestoßen, dabei war das das Letzte, was ich wollte. Seufzend wandte ich mich ab und lief in die Küche, wo ich das Frühstück vorbereitete. Doch während des gesamten Vormittags wechselte Elias kein einziges Wort mehr mit mir und vermied es auch, mir in die Augen zu sehen. Ich versuchte zu ignorieren, wie weh mir das tat und nahm mir vor, heute Abend erneut das Gespräch mit ihm zu suchen, aber es sollte alles anders kommen, als erwartet.

Laute Stimmen rissen mich aus meinen Gedanken und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass eine davon die meines Bruders Jonny war. Er klang wütend und zugleich verzweifelt, aber genaue Worte konnte ich durch die Türen hindurch nicht verstehen. Schließlich erklang ein erschreckend lautes "Raus hier!" und ich sprang auf und rannte in den Flur. Jonnys Freund Kai stand wie erstarrt meinem Bruder gegenüber und rührte sich nicht. Jonny wiederholte seine Worte, dieses Mal mit einer solch gefährlich ruhigen Stimme, dass es mir kalt den Rücken runterlief. "Verschwinde Kai. Ich schwöre bei Gott, ich hau dir sonst eine rein." Langsam schien der Dunkelhaarige aus seiner Starre zu erwachen und ich entdeckte Timo, der seinen Kopf aus seiner Zimmertür steckte. Wir wechselten einen kurzen Blick und nickten einander zu, dann lief ich zu Kai und legte vorsichtig einen Arm um ihn, um ihn langsam die Treppe hinunterzuführen, weil er auf mich den Eindruck machte, nicht wirklich geistig anwesend zu sein. Als wir an der Haustür standen, schaute ich ihn fragend an. "Geht's wieder?" Er nickte schwach. "Ich denke schon." "Wie kommst du nach Hause?" "Mit dem Fahrrad." "Bist du sicher? Willst du nicht lieber warten, bis Jonny sich beruhigt hat und dann nochmal versuchen mit ihm zu reden?" Als ich den Namen meines Bruders sagte, erkannte ich pure Verwirrung und stechenden Schmerz in Kais Augen, aber auf meine Frage hin, schüttelte er den Kopf. "Es ist wirklich besser, wenn ich gehe. Es war nett, euch alle kennenzulernen." Betroffen starrte ich den Dunkelhaarigen an. "Das klingt, als ob du nicht daran glauben würdest, dass wir uns nochmal sehen." Kai wischte sich hektisch über die Augen und schüttelte dann erneut den Kopf. "Ich glaube nicht, dass Jonny mich jemals wiedersehen will. Bitte sag ihm, dass es mir Leid tut und dass ich keinem etwas sagen werde. Aber bis du ihm das sagst, solltest du vielleicht warten, bis er sich wieder beruhigt hat. Es tut mir wirklich Leid." Er öffnete die Haustür und einer Eingebung folgend, zog ich ihn in meine Arme. Ich spürte, wie seine Schultern kurz bebten und er leise schluchzte, dann löste er sich von mir und lächelte nochmal schwach. Ich beobachtete, wie Kai zu seinem Fahrrad ging, das Schloss löste und losfuhr, dann schloss ich die Haustür wieder und lauschte, doch es war nichts zu hören. Vorsichtig lief ich die Treppe nach oben und entdeckte Timo und Mark, die im Schneidersitz vor Jonnys Zimmertür saßen. "Was ist passiert?", erkundigte ich mich und Mark zuckte die Schultern. "Er hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen, sobald du dich um Kai gekümmert hast. Wir haben ihn gebeten rauszukommen, aber er ignoriert uns." "Also haben wir beschlossen hier sitzenzubleiben, bis er rauskommt", erklärte Timo und kurzerhand setzte ich mich zu meinen Brüdern. "Habt ihr eine Idee, was passiert sein könnte?" Meine Brüder schüttelten beide den Kopf und ich seufzte. „Vermutlich haben sie sich gestritten. Aber es muss wirklich schlimm gewesen sein, denn Kai hat auf mich den Eindruck gemacht, dass er nicht denkt, dass wir ihn hier nochmal wiedersehen werden." Timo seufzte. „Ich dachte echt, sie würden es schaffen zusammen glücklich zu werden." Verwirrt schaute Mark zwischen uns hin und her und in diesem Moment fiel mir wieder ein, dass er noch gar nichts von Jonnys Gefühlen für Kai wusste. Schnell zog ich mein Handy hervor und tippte ein wenig darauf herum, dann reichte ich es meinem jüngeren Bruder, der sich den geschriebenen Text durchlas. „Oh", war das einzige, was er danach sagte und ich nickte schwach. Von da an schwiegen wir, saßen zu dritt vor Jonnys Zimmertür und warteten darauf, dass er raus kam. Aber nichts geschah. Und mit jeder weiteren verstreichenden Minute wurde ich besorgter, denn ich wusste, was mein Bruder tat, wenn er verzweifelt war: Er versuchte sich mit Alkohol abzulenken. Ich wusste nicht, ob er in seinem Zimmer irgendwo welchen versteckt hatte und meine Sorge wuchs und wuchs, während aus dem Raum hinter der Tür kein Mucks zu hören war.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt