Zeit für die Wahrheit

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"Hey Jonny, lässt du mich bitte rein?" Erneut bekam ich keine Antwort. Seit fast fünf Stunden saß ich vor der Zimmertür meines Bruders und hoffte, dass er mich rein lassen und mit uns reden würde. Doch es blieb still und ich schrieb Timo eine WhatsApp, in der ich fragte, ob sich draußen etwas getan hatte. Vor knapp zwei Stunden waren wir auf die Idee gekommen, dass Jonny sich vielleicht durch das Fenster irgendwie rausschleichen würde, weshalb Timo und Mark sich seitdem damit abwechselten, draußen Wache zu sitzen. Ein weiteres Mal klopfte ich an Jonnys Zimmertür. "Bitte mach auf. Wir müssen auch nicht reden, wenn du das willst. Aber ich möchte nicht, dass du jetzt alleine bist. Egal, was passiert ist, wir kriegen das irgendwie alles wieder hin, so wie wir immer alles irgendwie wieder hinkriegen." "Versprochen?", erklang Jonnys Stimme dumpf und ich atmete erleichtert auf, weil ich endlich ein Lebenszeichen von ihm bekommen hatte. "Versprochen." Es raschelte, dann klickte der Schlüssel im Schloss. Vorsichtig drückte ich die Türklinke nach unten und betrat Jonnys Zimmer. Mein Bruder saß mit angezogenen Knien auf seinem Bett und wiegte sich leicht vor und zurück, während er apathisch vor sich hin starrte. Ich schluckte, dann schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich in derselben Position neben ihn. Eine Weile schiegen wir einfach nur, dann räusperte Jonny sich leise. Seine Stimme war gerade so laut, dass ich sie verstehen konnte. "Ich hab Mist gebaut. Nicht so wie sonst, sondern richtig großen Mist." "Hast du dich mit Kai gestritten?", erkundigte ich mich vorsichtig. "Ich hab Mist gebaut", wiederholte Jonny und legte seinen Kopf auf meine Schulter, "Ich dachte- nein, eigentlich dachte ich gar nichts." "Was hast du gefühlt?", fragte ich ihn und spürte, wie mein Bruder sich kurz anspannte. Offensichtlich hatte ich ins Schwarze getroffen. "Ich hatte nie richtige Freunde. Gute Kumpels, ja, mit denen man Feiern und Dummheiten machen konnte. Aber richtige Freunde hatte ich nicht. Jemanden, der mich versteht, obwohl ich nichts sage. Jemanden, der mir zuhört und einen Rat gibt, statt mir eine Flasche Alkohol in die Hand zu drücken." "Und Kai ist so ein Jemand?" Ich schaute leicht zur Seite und sah, wie Jonnys Lippen sich kurz zu einem Lächeln verzogen. "Ja. Kai kann ewig zuhören, aber genauso ewig selbst reden. Er lehnt jegliche Drogen total ab und versucht immer, sich in andere hineinzuversetzen, um sie wirklich zu verstehen und ihnen zu helfen." Während Jonny sprach, ließ ich meine Gedanken schweifen und erinnerte mich an Momente, in denen mir hätte auffallen sollen, dass Jonny auf Jungs stand. Mir fiel ein, wie er die Hand seines Kumpels Josh gehalten hatte, als dieser zu viel getrunken hatte. Und ich erinnerte mich, dass er eine Frau aus unserer alten Gemeinde lange mit Fragen gelöchert hatte, als herauskam, dass ihr Bruder schwul war. Hätte ich es früher erkennen müssen? Hatte Jonny deshalb so oft zum Alkohol gegriffen, weil er diese Gefühle betäuben und unterdrücken wollte? Ich holte tief Luft und beschloss, meinen Bruder einfach direkt zu fragen. "Bist du dir über deine Gefühle für Kai klar geworden?" Jonny zuckte zusammen und zog seinen Kopf von meiner Schulter, dann schaute er mich erschrocken und ängstlich an. "Ja. Nein. Keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht, aber ich glaube schon. Findest du mich jetzt ekelhaft?" "Nein, nein, auf keinen Fall! Du bist mein Bruder und ich liebe dich. Nichts, was du tust oder sagst oder fühlst kann daran etwas ändern!" "Und die anderen? Papa? Die Kirche?" Ich schluckte, denn bei letzterem war ich tatsächlich etwas unsicher. "Ich kann dir nur nochmal sagen, was ich dir neulich im Hochsitz gesagt habe. Deine Geschwister und Papa werden dich immer lieben, egal in wen du dich verliebst. Vielleicht braucht der ein oder andere von ihnen ein bisschen Zeit, um sich mit dem Gedanken anzufreunden und sich daran zu gewöhnen, aber niemand wird dich verurteilen oder ausstoßen. Bei der Kirche bin ich mir nicht ganz sicher, aber du musst es ja nicht gleich im nächsten Gottesdienst von der Kanzel schreien." Ich grinste leicht und entlockte Jonny ein kleines Schmunzeln. Dann wurden wir wieder ernst. "Was ist heute Mittag passiert? Mit Kai?" Jonny schluckte. "Ich war ein riesiges Arschloch. Wir haben geredet und gelacht und eigentlich war alles wie immer. Dann hat er mich im Spaß gegen den Arm geboxt und ich hab das Gleichgewicht verloren und bin vom Bett gefallen. Ich hab mich an ihm festgehalten und ihn mit runter gezogen. Dann lagen wir auf dem Boden und er lag auf mir und dann- dann hab ich ihn einfach geküsst. Es hat sich so richtig angefühlt, verstehst du? Aber dann ist mir wieder eingefallen, was ich da eigentlich gerade tue und ich hab ihn weggestoßen und angebrüllt und ziemlich schlimme Sachen über ihn und über Schwule gesagt. Er hat leicht angefangen zu weinen, aber ich- ich hab einfach weitergebrüllt. Ich war so wütend." "Auf dich selbst?" "Ja. Und dann hab ich ihn aus meinem Zimmer geschmissen. Den Rest kennst du." Wir schwiegen und erst nach etwa einer Minute, räusperte ich mich. "Du solltest mit ihm reden und dich entschuldigen. Und ihm die Wahrheit sagen." "Die Wahrheit?" "Dass du dich auch in ihn verliebt hast und dass du keine Ahnung hast, wie du damit umgehen sollst und dass du Angst hast, was als nächstes passieren wird. Aber dass du dir jetzt immerhin sicher bist, wie du für ihn empfindest." "Klingt viel einfacher, als es ist." Ich nickte schwach. "Die Wahrheit zu sagen ist nie einfach. Aber je länger man sie verschweigt, umso schmerzhafter wird es sein, wenn du sie irgendwann aussprichst." "Hast du den Spruch von Instagram?", erkundigte sich Jonny mit hochgezogener Augenbraue und ich schüttelte den Kopf. "Nein, hab ich nicht. Den hab ich von Elias." "Von Elias? Wieso hat er sowas gesagt?" Ich biss mir auf die Lippe. "Weil ich ihm noch eine Wahrheit schuldig bin und mich nicht überwinden kann, sie auszusprechen." "Dann machen wir einen Deal", schlug Jonny vor und ich schaute ihn überrascht an. "Einen Deal?" "Ja. Ich rede mit Kai und sage ihm die Wahrheit und du sprichst mit Elias und sagst ihm die Wahrheit." "Solange du ein Geheimnis bewahrst, ist es dein Gefangener. Wenn du es aussprichst, wirst du sein Gefangener." "Der ist jetzt aber wirklich von Instagram, oder?" Ich nickte und schmunzelte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich wieder ernst wurde. "Trotzdem. Ich habe diese Wahrheit so lange unausgesprochen gelassen, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, sie jetzt preiszugeben." "Du kennst Elias doch noch gar nicht so lange", entgegnete Jonny verwirrt und ich schluckte. "Es ist nicht erst mein Geheimnis, seit ich Elias kenne." "Also verheimlichst du es auch vor uns, deiner Familie?" "Ja. Genauso wie du deines versteckt hast." "Vielleicht sollte unser Deal dann auch Papa, Timo, Mark und Tabea einschließen." "Ein Schritt nach dem anderen. Fangen wir bei Kai und Elias an." "Okay. Dann fahre ich jetzt wohl mal besser zu ihm, bevor mich der Mut verlässt." "Ja, tu das. Und denk daran, du packst das. Ich glaub an dich." "Für dich gilt dasselbe, Becca. Zeit für die Wahrheit."

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt