Unwichtig?

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„Timo, Jonny, beeilt euch! Wir kommen zu spät!", rief ich ungeduldig nach oben. Im nächsten Moment erklang lautes Getrampel und meine beiden Brüder trabten die Treppe runter. Beide trugen Hemden, genauso wie Mark. Tabea trug eines ihrer Lieblingskleider, ein blaues mit roten und gelben Blumen darauf. Aufgrund der sommerlichen Temperaturen hatte ich mich ebenfalls für ein Kleid entschieden. Es war oben eng und dunkelblau und hatte einen wasserfallartig fallenden, hellblauen Rock. Genervt schenkte ich meinen Brüdern einen strafenden Blick, dann öffnete ich die Haustür und ließ alle raus, bevor ich hinter uns abschloss und die ganze Truppe zur Kirche lotste. Die Bänke in dem schönen, alten Bauwerk waren bereits gut gefüllt. Hier und da schenkte ich den Leuten ein aufgesetztes Lächeln, während ich meine Geschwister in die erste Reihe scheuchte, wo wir uns auf die harte Kirchenbank fallen ließen. Papa stand noch etwas versteckt im Gang zu unserer rechten, doch als die Organistin schwungvoll zu spielen begann, lief er nach vorne zum Altar. Ich sah, wie er die Augen schloss und betete, dann endete das Orgelspiel und Papa lief zur Kanzel, um die Gemeinde zu begrüßen.

„Eine wirklich schöne Predigt, Herr Lorenzen." „Danke Frau Buchenhain. Schönen Sonntag." „Ihnen auch, Herr Pastor." Mit halbem Auge und halbem Ohr verfolgte ich, wie mein Vater die Gottesdienstbesucher verabschiedete, während ich Tabea im Blick behielt, die lachend mit einem anderen Mädchen um die Menschen vor der Kirche herumrannte. Als sie dabei eine ältere Dame beinahe umstießen, hielt ich meine Schwester beim nächsten Mal, als sie an mir vorbeikam, am Arm fest. „Nicht so wild, Tabea. Du hättest Frau Franke eben fast zu Fall gebracht. Entschuldige dich bitte bei ihr." „Lass mich los, du tust mir weh!" Sofort lockerte ich meinen Griff, behielt aber den strengen Blick bei. Meine kleine Schwester seufzte, dann schaute sie auf ihre Füße und nickte. „Ist ja gut, ich geh mich ja entschuldigen." Ich ließ sie los und beobachtete, wie sie meiner Aufforderung Folge leistete. Als mir jemand auf die Schulter tippte, drehte ich mich erschrocken um. Mark grinste schwach. „Sorry, dass ich dich erschreckt habe. Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, dass Timo, Jonny und ich schon nach Hause gehen." Ich lächelte und nickte. „Alles klar. Ich komme auch gleich und fange an, das Mittagessen zu kochen. Ich sag nur schnell Papa Bescheid. Geht ihr ruhig schon vor." „Ach Quatsch, wir warten auf dich, Schwesterchen." Grinsend knuffte Mark mich in die Schulter, woraufhin ich ebenfalls grinste. Dann schaute ich mich suchend um und lief zu meinem Vater. „Papa, ich geh mit den Jungs nach Hause und kümmere mich um das Mittagessen. Tabea ist noch hier und spielt mit der Tochter von Fischers. Du müsstest sie dann nachher mitnehmen." „Mhm." Ohne mich eines Blickes zu würdigen, nickte Papa leicht und widmete sich dann dem nächsten Gottesdienstbesucher, weshalb ich nur leise seufzte und zu meinen Brüdern joggte. Der Weg von der Kirche zu unserem neuen Haus dauerte nur fünf Minuten zu Fuß. Sobald ich die Haustür aufgeschlossen hatte, verschwanden Timo und Jonny nach oben auf ihre Zimmer. Lediglich Mark folgte mir in die Küche. „Was kochst du heute?", erkundigte er sich, während wir uns gleichzeitig über der Spüle die Hände wuschen. „Ich hab gestern Hähnchenbrust gekauft und wollte Hühnerfrikassee mit Erbsen machen." „Mh, klingt super. Kann ich dir helfen?" Ich lächelte und nickte. „Gern, das ist lieb von dir. Hol doch bitte das Fleisch aus dem Kühlschrank und den Reis aus der Speisekammer. Ich geh in den Keller und hole die Erbsen aus der Truhe."

Eine Dreiviertelstunde später, das Essen war gerade bereit, in Schüsseln gefüllt zu werden, hörten wir, wie der Schlüssel in der Haustür umgedreht wurde. Kurz darauf stand Papa in der Küche. „Ich hab mich jetzt einfach mal losgeeist, um pünktlich zum Essen zu sein. Was gibt es denn leckeres?" „Hühnerfrikassee. Wo ist Tabea?" „Wieso Tabea? Ich dachte, sie wäre mit euch nach Hause gegangen." Fassungslos starrte ich Papa an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ich hatte dich gebeten, sie mitzubringen, weil sie noch gespielt hat!" Für einen kurzen Moment herrschte Totenstille in der Küche. Papa öffnete den Mund und schien nach Worten zu suchen, während mir keine einfielen, die nicht beleidigend gewesen wären. Als weiterhin keine Antwort kam, seufzte ich. „Ich rufe Timo und Jonny, dass sie den Tisch decken und das Essen in die Schüsseln machen sollen, während ich Tabea holen gehe. Fangt ruhig schon ohne mich an zu essen." Ohne eine Reaktion abzuwarten, lief ich in den Flur. „Timo, Jonny, kommt bitte runter, deckt den Tisch und füllt das Essen in die Schüsseln!" „Jetzt oder später?", kam die murrende Antwort meines pubertierenden Bruders. Ich verdrehte die Augen. „Möchtest du dein Essen gerne kalt aus dem Topf essen?" Ich hörte, wie oben träge Schritte erklangen, was für mich das Signal war, das Haus zu verlassen. Leicht joggend machte ich mich auf den Weg zur Kirche, wo nur noch wenige Menschen zu sehen waren. Tabea war keine davon. Suchend schaute ich mich um, fragte ein paar Leute und lief letztendlich in die Kirche. Als ich niemanden entdeckte, wollte ich gerade gehen, als ich ein leises Schluchzen hörte. Sofort drehte ich mich wieder um und entdeckte meine Schwester zusammengekauert in der zweiten Reihe der Kirchenbänke. Erleichtert sie gefunden zu haben, lief ich zu ihr. „Hey Prinzessin. Ich hab dich gesucht." Anstelle einer Antwort erklangen weitere Schluchzer, weshalb ich mich mit besorgtem Gesicht neben Tabea setzte. Sie schaute hoch und der Anblick ihres verweinten Gesichts versetzte meinem Herz einen schmerzhaften Stich. Liebevoll wischte ich meiner Schwester die Tränen unter den Augen weg. „Was ist denn los, Prinzessin?" „Bin ich Papa unwichtig? Hat er mich nicht mehr lieb? Und du und die Jungs? Wollt ihr mich nicht mehr zu Hause haben?" Ihre verzweifelte Stimme und die Ernsthaftigkeit ihrer Fragen trieben mir selbst Tränen in die Augen. „Aber nein, natürlich bist du uns wichtig und wir lieben dich. Papa ist im Moment einfach sehr gestresst wegen der neuen Arbeit und weil er alles richtig machen möchte. Und du kennst doch deine Brüder und ihre dummen Sprüche. Aber wir lieben dich alle und ohne dich wäre es ganz schrecklich, Prinzessin! Glaubst du mir das?" Tabea schniefte und rieb sich die Augen, dann zuckte sie die Schultern. Ich seufzte leise. „Es tut mir Leid und ich bin sicher, Papa geht es genauso, dass er dich hier vergessen hat. Aber das kommt nicht wieder vor, hörst du? Nie wieder." „Indianerehrenwort?" Ich musste leicht grinsen. „Indianerehrenwort." Lächelnd schlang Tabea ihre Arme um mich und drückte mich fest, was ich schmunzelnd erwiderte. Sanft gab ich ihr einen Kuss auf den Scheitel und strich ihr ein paar Mal übers Haar. „Ich hab dich lieb, Becca. Du erinnerst mich an Mama." Mir stockte der Atem. „Wie bitte?" Vorsichtig löste sich Tabea von mir und musterte mich, als habe sie Angst, etwas falsches gesagt zu haben. „Du erinnerst mich an Mama. Sie hat mich auch immer Prinzessin genannt und mich getröstet, wenn ich traurig war. Und sie war auch immer da für mich und hat mir die Haare geflochten und mit mir Klamotten ausgesucht." Ich schluckte angestrengt den Kloß in meinem Hals hinunter und strich Tabea sanft eine Strähne aus dem Gesicht. „Weißt du, warum Mama dich immer Prinzessin genannt hat?" Tabea nickte stolz. „Weil Gott der König ist und ich seine Tochter bin." Ich lächelte. „Ganz genau. Gott liebt dich, ich liebe dich, Papa liebt dich, Timo liebt dich, Mark liebt dich und sogar Jonny liebt dich, auch wenn er das nie zeigt. Ohne dich würde unserer Familie etwas ganz wichtiges fehlen. Das darfst du niemals vergessen, Tabea." „Okay." Ich nickte zufrieden, stand auf und hielt Tabea meine Hand hin. „Na los, lass uns nach Hause gehen, sonst essen die Jungs uns das ganze Essen weg."

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt