Familie (2)

362 13 0
                                    

„Ihr habt ja gar keine Schokolade mitgebracht", stellte Mark beim Öffnen der Haustür überrascht fest und Paul nickte. „Ja, sie hat dort eine ganze Weile mit sich gerungen und mir dann gestanden, dass sie eigentlich abnehmen möchte, weil sie so stark zugenommen hat." Ich konnte mich gerade so davon abhalten, meinen Onkel entsetzt anzugucken. „Also ich finde, du hast nicht zugenommen und bist immer wunderschön", stellte Mark fest und brachte mich damit ein wenig zum schmunzeln. „Danke, Schleimer." Mein Bruder grinste, dann nickte er in Richtung des Wohnzimmers und schloss die Haustür hinter Paul und mir. „Oma und Opa sind mittlerweile hier. Sie sitzen alle zusammen draußen im Garten." "Ich gehe kurz Hände waschen und komme dann auch nach draußen", erwiderte ich und eilte die Treppe hoch ins Badezimmer. In letzter Sekunde konnte ich den Klodeckel hochheben, dann übergab ich mich und zeitgleich liefen mir die ersten Tränen über die Wangen. Als mein Magen komplett leer war, spülte ich und wusch mir das Gesicht. Mit einem großen Schluck Mundspülung gurgelte ich so lange, bis ich das Gefühl hatte, dass dort keine Faser von Paul mehr zu finden war, dann schaute ich in den Spiegel. Meine Augen waren rot und meine Wimpern klebten von meinen Tränen aneinander. Schnell trocknete ich mein Gesicht und begann mich zu schminken. Meine roten Wangen von Pauls Ohrfeigen, die ich eben noch unter meinen Haaren versteckt hatte, überschminkte ich genauso wie meine Augenringe der letzten Wochen. Zuletzt trug ich Wimperntusche und Lippenstift auf und zauberte mir sogar noch einen Lidstrich. Aus irgendeinem Grund war mir gerade einfach danach. Beim Kontrollblick in den Spiegel stellte ich fest, dass ich jetzt wieder lebensfähig aussah und lief schnell in mein Zimmer, wo ich in frische Klamotten stieg. Zum ausgiebigen Duschen hatte ich jetzt keine Zeit, also musste ich mir mit Deo und neuer Kleidung aushelfen. Da es heute extrem warm war, hatte ich mir die Haare schnell zu zwei Zöpfen geflochten und schlüpfte nach neuer Unterwäsche in eine kurze Jeans, die knapp oberhalb der Knie endete und eine luftige Bluse, die jedoch Dreiviertelärmel hatte. Das war notwendig um die blauen Flecke und Knutschflecken von Paul zu verstecken, denn bis ich die überschminkt gehabt hätte, hätte ich wohl Stunden gebraucht. Seufzend checkte ich mich ein letztes Mal im Spiegel durch, dann lief ich die Treppe runter und in den Garten. "Entschuldigt die Verspätung, ich musste mich unbedingt mal frisch machen. Es ist ja wirklich unerwartet warm heute." Lächelnd lief ich zu meinen Großeltern und umarmte sie. "Hallo Oma, hallo Opa. Wie schön, dass ihr da seid." "Wir freuen uns auch, Becca. Und jetzt lass dich mal ansehen, Kind. Du siehst jedes Mal noch erwachsener aus, wenn wir herkommen", stellte mein Opa fest und Oma fügte hinzu: " Du siehst deiner Mutter mit jedem Tag ähnlicher." Daraufhin trat kurz Schweigen ein, dann räusperte ich mich und wechselte lächelnd das Thema. "Papa hat schon erzählt, dass du deinen fantastischen Nudelsalat mitbringst, Oma. Soll ich den mal in den Kühlschrank stellen?" "Nein danke Schätzchen, das hat Mark schon erledigt. Setz' dich lieber zu uns und erzähl' mir von der neuen Schule und deinen neuen Mitschülern. Hast du schon Freunde gefunden?"

Nachdem ich meine Großeltern mit allerhand ausführlicher Antworten zufrieden gestellt hatte, wurde es Zeit, das Abendessen anzugehen. Paul hatte sofort verkündet, dass er mir liebend gerne bei den letzten Sachen helfen würde und hatte mich in die Küche verfolgt. Sobald er die Tür hinter uns geschlossen hatte, krallte sich seine Hände in meine Hüfte und er presste seine Lippen auf meine. Ich hielt einfach still und ließ es über mich ergehen, bis sein Griff schmerzhaft wurde. Ein klares Zeichen, dass er wollte, dass ich den Kuss erwiderte. Als ich das nicht sofort tat, wurde sein Griff noch fester und mir traten schon fast Tränen in die Augen, weshalb ich den Kuss schließlich erwiderte. Als jedoch ruckartig die Küchentür geöffnet wurde, ließ Paul sofort von mir ab und schaute Tabea fragend an, die uns Gott sei Dank unterbrochen hatte. Ihr Blick war skeptisch. „Was macht ihr da? Wolltet ihr euch nicht ums Essen kümmern?" „Ja, wollten wir. Hast du etwa Hunger, du kleine Raupe Nimmersatt?", antwortete Paul sofort und schon hatte er meine kleine Schwester abgelenkt, indem er sie in den Bauch und die Seite pikste und sie so zum Lachen brachte. Ich schob mich unauffällig an den beiden vorbei und holte die Salate aus dem Kühlschrank, als es plötzlich klingelte. Da offensichtlich niemand auf die Idee kam, die Tür zu öffnen, lief ich hin und erstarrte, als mich braune Augen freundlich anblitzten. „Was machst du denn hier?" „Danke für die nette Begrüßung. Ich hab dir schon zig Mal geschrieben, aber du antwortest einfach nicht, also hab ich mir von der Kursliste deine Adresse besorgt." „Das beantwortet meine Frage nicht." „Ich brauche meinen Block, weil da mein ganzes Zeug für die Hausaufgaben drin ist und ich mit meinem Aufsatz für Deutsch noch nichtmal angefangen habe." „Aber den müssen wir doch schon am Montag abgeben!", entfuhr es mir entsetzt und mein Gegenüber kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich weiß. Also jedenfalls wollte ich fragen, ob du meinen Block vielleicht eingepackt hast, weil ich ihn absolut nicht finden kann." Seufzend öffnete ich die Tür etwas weiter. „Komm rein, wir können zusammen nachschauen." Ich wollte gerade zur Treppe laufen, als Oma aus dem Garten kam. „Wer ist denn dein Besuch, Becca?" „Das ist Elias, ein Mitschüler. Wir gehen oben kurz nachschauen, ob ich aus Versehen seinen Block eingepackt habe." „Ach, nur so kurz, das ist aber schade. Möchte der junge Mann nicht vielleicht mit uns essen?" „Bestimmt nicht", antwortete ich sofort, während Elias sagte: „Sehr gerne, wenn ich darf." Oma grinste breit. „Hervorragend, dann sage ich mal schnell deinem Vater Bescheid und ihr könnt solange den Block suchen." Sie zwinkerte uns zu und lief wieder in den Garten, während ich Elias nach oben in mein Zimmer führte, wo er sich interessiert umsah. „Nett hast du's hier." „Danke. Ist das hier dein Block?" „Ja, ist es." Unwillkürlich errötete ich ein wenig. „Sorry, den hab ich wohl gedankenverloren eingepackt." „Kein Problem, ich werde dafür ja gleich mit Essen entschädigt." Ich nickte bloß, dann liefen wir nach unten in den Garten und ich stellte fest, dass meine Familie sich in der Zwischenzeit um alles gekümmert hatte. Elias winkte freundlich in die Runde und schüttelte meinem Vater sogar die Hand. „Hallo Herr Lorenzen." „Du kannst ruhig David sagen, Elias. Willkommen bei uns zu Hause." „Vielen Dank, dass ich mitessen darf." Ich unterbrach die beiden und stellte Elias meine Familie vor. „Das sind meine Großeltern Helmut und Elfriede, der Typ am Grill ist mein großer Bruder Timo, der daneben ist mein jüngerer Bruder Mark, da hinten steht mein anderer jüngerer Bruder Jonny und ärgert gerade unser Küken Tabea." „Und was ist mit mir?", erklang eine Stimme hinter uns und ich spannte mich sofort an. Wir drehten uns um und ich erblickte erneut das widerlichste Grinsen der Welt. „Das ist mein Onkel Paul." Ich bemerkte, dass meine Stimme automatisch eisiger wurde und hoffte, dass es Elias nicht aufgefallen war. Die beiden unterhielten sich kurz und Paul schleimte ganz furchtbar, dann konnten wir uns endlich alle an den Tisch sitzen. Ich landete zwischen Elias und Paul und bekam den restlichen Abend vor Anspannung kaum einen Bissen runter. So hatte ich mir mein Wochenende nicht vorgestellt.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt