Mut

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Mit wackligen Schritten schloss ich die Haustür hinter Paul und mir, zog die Schuhe aus und lief die Treppe nach oben. Auf dem Absatz begegnete ich Timo. "Hey, wie war euer Spaziergang? Ihr ward ganz schön lange weg." Ich nickte schwach. "Es gab viel zu besprechen. Ich geh jetzt duschen." Verwirrt schaute mein großer Bruder mich an. "Wieso das denn?" "Es ist warm draußen, ich hab geschwitzt, also werde ich ja wohl duschen dürfen." "Beruhig dich mal, Kleine. Hast du etwa deine Tage?" Mein Körper fühlte sich zwar so an, aber nein, ich hatte nicht meine Tage. Bei Gott, ich hätte lieber meine Tage gehabt, als dieses dreckige und benutzte Gefühl. "Nein, hab ich nicht. Ich will einfach nur duschen." Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Offensichtlich waren meine Emotionen komplett durcheinander, aber so war es fast immer, wenn Paul sich an mir vergangen hatte. Danach fühlte ich mich wieder wie das hilflose kleine Kind von früher. An Timos irritiertem Blick bemerkte ich, dass ihm die ersten Tränen aufgefallen waren, weshalb ich mich schnell an ihm vorbei ins Badezimmer schob. Mitsamt meinen Klamotten stieg ich unter die Dusche und ließ eiskaltes Wasser über meinen Körper laufen. Heute war es anders gewesen als sonst. Paul schien seine verschiedenen Vorlieben an mir austesten zu wollen, aber es waren seine Fantasien und nicht meine. Angeekelt streifte ich mir die klatschnassen Sachen ab und öffnete die Tür der Dusche kurz, um alles in den Wäschekorb zu schmeißen, dann ließ ich das Wasser weiter auf mich hinabregnen. Erst, als meine Zähne leicht zu klappern begannen, stellte ich das Wasser wärmer und duschte mich mit Unmengen an Shampoo, bis das dreckige Gefühl langsam weniger wurde. Nachdem ich aus der Dusche gestiegen war, wickelte ich mich in ein Handtuch und lief in mein Zimmer. Was danach geschah, verstand ich nicht, denn ich tat es nicht bewusst, sondern aus einem Gefühl heraus. Ich ballte die Faust und schlug mit aller Kraft gegen die Wand. Die Schmerzsignale, die jetzt durch meinen Körper schossen, gaben mir das Gefühl aufzuwachen und es war, als wäre ich jetzt erst wieder bei klarem Verstand. Meine Fingerknöchel waren gerötet und an einer Stelle bildete sich bereits ein blauer Fleck, aber dafür fühlte ich mich lebendig. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild im kleinen Spiegel an der Außenseite meines Kleiderschranks. An meinen Handgelenken waren rote Stellen zu sehen, die spätestens morgen blau werden würden und das kurze Handtuch konnte auch die deutlichen Fingerabdrücke und Kratzer an meinen Oberschenkeln nicht verstecken. Während ich so da stand und mich ansah, kam mir eine Idee. Kurzerhand nahm ich mein Handy vom Schreibtisch und verschloss die Tür, dann öffnete ich die Kamera-App und begann Fotos von meinem malträtierten Körper zu machen. Als das erledigt war, suchte ich mir schnell Klamotten aus dem Schrank und als ich schließlich einen luftigen, knielangen Rock und eine langärmlige, aber sehr dünne Bluse trug, lief ich wieder nach unten. Meine Haare waren aufgrund der heißen Temperaturen schon so gut wie getrocknet und auf MakeUp verzichtete ich bei diesem Wetter gerne. Meine Familie, Paul und Katja saßen im Garten und Mark rutschte ein Stück zur Seite, als ich zu ihnen stieß. So überzeugend lächelnd wie möglich ließ ich mich neben ihn fallen und beschloss, dasselbe wie immer zu tun: Ich würde mit aller Macht versuchen, meine Gefühle zurückzudrängen. Solange Paul hier war, würde ich nicht den Hauch von Schwäche zeigen.

"Danke für eure Aufmerksamkeit und die angeregte Diskussion", beendete ich Elias' und meine Präsentation und unsere Mitschüler klatschten, während wir uns wieder auf unsere Plätze setzten. "Vielen Dank für diese hervorragende Präsentation über das Thema Abtreibung. Man hat wirklich gemerkt, dass ihr euch viele Gedanken gemacht habt und gut vorbereitet ward." Ich bekam Frau Antuschs restliche Worte nicht mehr mit, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu beruhigen. Als ich es nicht schaffte, das Zittern in meinen Händen loszuwerden, ging ich schnell auf die Toilette. Keuchend lehnte ich mich auf dem Waschbecken ab und starrte mein Spiegelbild an. Ich hatte es geschafft. Ich hatte dieses Referat tatsächlich überstanden oder vielmehr durchgestanden und dafür musste ich Elias nach der Stunde auf jeden Fall danken. Zunächst, weil er mir vor der Präsentation Mut zugesprochen hatte und dann, weil er während des Vortrags zwei Mal für mich weitergeredet hatte, weil ich es nicht aussprechen konnte. Mit noch immer zittrigen Fingern drehte ich den Wasserhahn auf und spritzte mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht, dann trocknete ich es mit Papiertüchern ab und kontrollierte meinen Anblick nochmal im Spiegel. Man sah mir nichts an, ich sah aus wie immer. Mein Blick fiel auf meine Hände, die nicht mehr zitterten. Ein letztes Mal atmete ich tief durch, dann kehrte ich in den Unterricht zurück.

"Du warst super." "Danke, du aber auch. Und auch danke dafür, dass du zwei Mal für mich übernommen hast. Ohne dich wäre die Präsentation nicht so gut gelaufen." Sanft lächelte Elias mich an. "Dafür musst du mir nicht danken. Ich wusste, wie schwer es dir fallen würde und ehrlich gesagt bin ich dankbar, dass du mich dir hast helfen lassen." "Sowas tun Freunde, nicht wahr?" "Ja, sowas tun Freunde wohl. Freunde sagen sich aber auch, wie stolz sie aufeinander sind und ich bin unglaublich stolz auf dich." Irritiert starrte ich Elias an. "Wieso das denn?" "Du bist das mit Abstand mutigste Mädchen, das ich kenne. Stellst dich da vorne hin und redest über ein Thema, das vieles, aber mit Sicherheit nicht einfach ist und ziehst es durch. Da gehört mega viel Mut und Entschlossenheit und Größe dazu und dafür bewundere ich dich jeden Tag." Ohne, dass ich es wollte, brachten seine Worte ein schwaches Lächeln auf meinen Lippen zustande. "Danke Elias. Für alles."

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt