Der 13-jährige Timo

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"Ich verstehe nicht, wieso ihr noch kein Paar seid." Mit großen Augen schaute ich Lara an. "Wie bitte? Wie kommst du darauf?" "Ich bin nicht blind, Becca. Dass Elias Gefühle für dich hat, weiß ich schon ewig und ich habe dich zuletzt sehr genau beobachtet. Du fängst an zu lächeln, wenn ich nur seinen Namen sage und ihr habt jetzt so einiges zusammen durchgestanden, da ist es normal, dass mein ein engeres Verhältnis zueinander aufbaut." "Aber deshalb muss ich doch nicht gleich mit ihm zusammenkommen. Da gehören noch andere Dinge dazu. Man muss zum Beispiel Liebe für den anderen empfinden." "Okay, dann sag mir ins Gesicht, dass dein Herz nicht schneller schlägt, wenn du Elias siehst und dass du dich nicht immer freust, ihn zu sehen." Ich setzte an, um meiner besten Freundin genau das zu sagen, hielt dann aber inne, denn sie hatte zu meinem Entsetzen Recht. Wenn ich ihr das jetzt sagen würde, wäre es eine Lüge. Also senkte ich bloß seufzend den Kopf und Lara triumphierte. "Na also, ich wusste es. Wann wirst du ihm sagen, dass du dich in ihn verliebt hast?" "Gar nicht. Sowas kann ich im Moment nicht gebrauchen. Ich habe zu Hause Verpflichtungen, denen ich nachkommen muss." "Meine Güte, warum bist du bloß immer so vernünftig und rational? Für eine Weile dachte ich, du würdest dich langsam damit anfreunden, Gefühle zuzulassen, aber ich hab mich wohl geirrt." Ich seufzte. "Ohne Gefühle ist das Leben einfacher." "Ohne Gefühle ist es überhaupt kein Leben, Becca. Denk mal drüber nach." Mit diesen Worten ließ sie mich mit einem Kopf voller Chaos stehen und ich fühlte mich komplett überrumpelt. Ich dachte, wenn ich ihr alles erzählte, was gestern mit Paul und Elias vorgefallen war, wäre das ein Vertrauensbeweis und etwas positives, aber irgendwie hatte meine beste Freundin daraus gerade etwas negatives gemacht. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, klingelte mein Handy. Überrascht hob ich ab und lief zu einer Mauer, wo ich etwas geschützter und weiter weg vom Lärm war. "Rebecca Lorenzen?" "Hallo Frau Lorenzen, ich rufe aus der Rosenwald-Klinik an. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater verschwunden ist." Ich erstarrte. "Was? Wie das denn?" "Er hat sich während der Übergabe rausgeschlichen und da wir keine geschlossene Anstalt sind, konnte er das Gelände ohne große Schwierigkeiten verlassen. Ich rufe an, weil ich Sie fragen möchte, ob es vielleicht einen Ort gibt, den Ihr Vater aufsuchen würde?" Ich schluckte. "Ja, den gibt es. Aber ich werde zuerst selbst dort nachschauen. Ich melde mich bei Ihnen." "Vielen Dank. Auf Wiederhören." Ich legte auf und schrieb Lara schnell eine Nachricht, dass es ein Problem mit meinem Vater gab und sie mich bitte bei den Lehrern entschuldigen solle, dann lief ich schnellen Schrittes zur nächsten Bushaltestelle. Mir fiel nur ein Ort ein, für den Papa die Klinik verlassen würde.

"Wusste ich doch, dass ich dich hier finde." Mein Vater zuckte zusammen und schaute zu mir. "Hast du keine Schule?" "Die Klinik hat mich angerufen, dass du abgehauen bist. Und mir fiel nur dieser Ort ein, als sie mich fragten, wo du sein könntest." "In der letzten Therapiestunde haben wir über sie geredet und da musste ich sie einfach sehen." Sein Blick glitt wieder nach unten und ich stellte mich neben ihn. Dieser Anblick war so grausig vertraut, dass es mir kalt den Rücken herunterlief. "Fahrt ihr am Wochenende her?", erkundigte Papa sich und ich nickte. "Natürlich. Wenn du dieses Mal freundlich in der Klinik fragst und nicht einfach abhaust, kannst du vielleicht auch herkommen." "Lieber nicht. Ich bin noch nicht bereit, euch alle wiederzusehen." "Okay. Aber wir sollten jetzt zurück zur Klinik fahren. Wie bist du eigentlich hergekommen?" "Mit dem Zug." "Von welchem Geld hast du die Fahrkarte bezahlt?", hakte ich misstrauisch nach und Papa schaute mich ertappt an. "Ich bin schwarzgefahren." Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. "Na los, lass uns gehen. Und dieses Mal kaufen wir dir ein Ticket." Ich bot ihm meine Hand an und er nahm sie, dann liefen wir los. Ein letztes Mal drehte ich mich um und warf noch einen kurzen Blick auf Mamas Grab, dann drückte ich Papas Hand und wir verließen den Friedhof.

Ein vorsichtiges Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. "Herein." Zu meiner Überraschung war es nicht Mark, der jetzt mein Zimmer betrat, sondern Timo. "Hey Großer, was kann ich für dich tun?" "Mir die Wahrheit sagen. Was ist gestern hier passiert?" Ertappt starrte ich ihn an. "Woher weißt du-?" "Tabea hat mir erzählt, dass Katja Onkel Paul verlassen hat und er daraufhin extrem wütend geworden ist. Dann kamst du gestern nach Hause und hattest eindeutig Schmerzen und unter deinem MakeUp schimmerten Verletzungen durch. Dass Onkel Paul gestern Abend noch ganz spät zurück nach Hause gefahren ist, war nur noch die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Also, was ist gestern passiert?" "Wie du schon gehört hast, war Paul sehr wütend. Und dabei hat er das Wohnzimmer total verwüstet." "Das erklärt deine Verletzungen nicht. Und wehe du bringst jetzt so eine bescheuerte Ausrede wie, dass du gegen einen Schrank gefallen bist oder sowas." Ich seufzte. "Paul hat mich zum Abreagieren als Boxsack benutzt." Obwohl er damit wohl schon gerechnet hatte, entgleisten Timo alle Gesichtszüge. "Er hat dich verprügelt?" "Verprügelt ist ein starkes Wort." "Zeig es mir", forderte er mich auf und ich starrte ihn mit großen Augen an. "Was?" "Zeig mir, was er dir angetan hat." "Timo, das-" "Keine Widerrede! Ich will es sehen." Ich schluckte, dann erhob ich mich und zog mein Oberteil nach oben. Tränen traten in Timos Augen. "Oh mein Gott. Wieso hast du nichts gesagt? Das ist Körperverletzung." "Genau deswegen hab ich ja nichts gesagt. Was glaubst du, was es mit Papas Nerven machen würde, wenn sein Bruder eine Anzeige bekommen würde, weil er seine Nichte verprügelt hat?" "Du sagtest, verprügeln sei ein starkes Wort." Ich seufzte. "Aber es ist das richtige Wort. So scheiße das auch ist." Auf Timos Fordern hin, erzählte ich ihm grob, was gestern passiert war. Er lauschte angespannt und ich realisierte, dass es das erste Mal seit langem war, dass er sich tatsächlich Sorgen zu machen schien. Und so schlimm der Grund dafür auch war, so sehr freute ich mich, dass mein Bruder mir zuhörte und wir Zeit miteinander verbrachten, ohne dass wir beispielsweise einkaufen mussten. Ich vermisste den Timo, der mein 10-jähriges Ich lachend durch die Luft wirbelte und der mich tröstete, wenn ich fiel und mir die Knie aufschürfte. Aber jetzt gerade fühlte ich mich für einen kurzen Moment wieder wie dieses 10-jährige Mädchen, das ihrem drei Jahre älteren Bruder sein Herz ausschüttete.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt