Nächtliche Gespräche

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„Das hättest du nicht machen müssen." Elias zuckte zusammen und drehte seinen Kopf zu mir um. „Ich wollte aber. Du hast gekocht und du lässt mich hier wohnen, da ist es das Mindeste, wenn ich die Spülmaschine einräume." Er stellte den letzten Teller hinein und zog die Klappe zu, dann drehte er sich vollständig zu mir um und lächelte. „Es hat übrigens sehr lecker geschmeckt." Ich grinste. „Das hast du während des Essens schon drei Mal gesagt." „Weil es stimmt." „Du hast seit zwei Wochen praktisch nur irgendwelche Fertigsachen gegessen, dir hätte sogar das Essen von Jonny geschmeckt." Jetzt musste auch Elias grinsen. „Stimmt." Für einen Moment schwiegen wir, dann nickte ich nach oben. „Ich hab dir Papas Bett bezogen und Platz im Schrank gemacht. Du kannst dich da jetzt ausbreiten." „Alles klar, danke. Was ist mit deinen Geschwistern? Ist es für die okay, wenn ich hier vorübergehend einziehe?" „Ja. Tabea vergöttert dich sowieso und die Jungs finden dich auch cool. Solange du nicht stundenlang eines der Badezimmer versperrst, werden sie kein Problem mit dir haben." „Na wie gut, dass ich ein Schnellduscher bin", bemerkte Elias schmunzelnd. Mein Blick fiel auf die Uhr hinter ihm. „Ich muss jetzt Tabea ins Bett bringen. Geh einfach nach oben, deine Sachen sind ja schon im richtigen Zimmer. Ich schau dann in einer halben Stunde nochmal bei dir vorbei." „Alles klar."
Gemeinsam liefen wir die Treppe hoch, dort trennten sich unsere Wege. Ich lief zu Tabeas Zimmer, klopfte an und trat ein. „Hey Prinzessin, es wird Zeit ins Bett zu gehen." Meine kleine Schwester schaute von dem Buch auf, in dem sie gerade blätterte und legte den Kopf schief. „Wieso schläft Elias ab jetzt hier?" „Weil er nicht mehr bei sich zu Hause schlafen möchte und ich nicht möchte, dass er in seinem Auto schläft." „Und wieso möchte er nicht mehr bei sich zu Hause schlafen?" „Das weiß ich auch nicht so genau und es ist auch Elias' Sache. Aber er hat bestimmt einen triftigen Grund. Und jetzt geh ins Bad, damit ich dir anschließend noch schnell die Haare machen kann." Tabea stand auf und lief ins Bad, während ich ein wenig ihr Zimmer aufräumte. Als sie wiederkam, zog sie schnell ihren Schlafanzug an und ich flocht ihr locker die Haare, damit es morgen früh kein Theater gab, wenn ich sie durchkämmen musste. Als Tabea schließlich im Bett lag, kniete ich mich neben sie und wir beteten. „Lieber Gott, danke für diesen Tag und dafür, dass Frau Merck heute gesagt hat, dass ich ihre beste Schülerin in Englisch bin. Bitte lass uns jetzt alle gut schlafen, besonders Elias, weil er ja heute Nacht an einem Ort schläft, wo er noch nie geschlafen hat. Bitte mach, dass wir morgen alle wieder gesund aufwachen und dass Papa bald zurückkommt. Amen." „Amen", wiederholte ich und öffnete dann lächelnd die Augen. „Schlaf gut Prinzessin." Sanft küsste ich Tabea auf die Stirn, dann knipste ich ihre Nachttischlampe aus und verließ den Raum. Zu meiner Überraschung stand Elias davor. „Wie lange stehst du schon hier?", erkundigte ich mich. „Ein paar Minuten. Ich hab euch beim Beten zugehört. Betest du eigentlich auch nochmal vor dem Schlafen?" Ich biss mir auf die Lippe und schüttelte den Kopf. „Sagen wir es so: Ich hab seit einer Weile etwas Schwierigkeiten an Gott zu glauben. Und ich kann nicht zu einem Gott beten, an den ich nicht glaube." Dass Paul der Grund war, wieso ich an Gott zweifelte, verschwieg ich Elias. Aber wie sollte ich auch an einen Gott glauben, der mich von meinem Onkel missbrauchen und erpressen ließ? Ich seufzte leise und schaute Elias dann fragend an. „Ist es okay, wenn ich den Jungs noch kurz eine gute Nacht wünsche und mir etwas bequemeres anziehe? Danach würde ich gerne mit dir darüber reden, wieso du abgehauen bist." Elias nickte. „Ich warte im Schlafzimmer deines Vaters." Er ging und ich klapperte der Reihe nach die Zimmer meiner Brüder ab, bevor ich mein eigenes betrat. Aus dem Kleiderschrank nahm ich eine Jogginghose, einen Sport-BH und ein T-Shirt, dann zog ich mich schnell um, schaltete das Licht aus und lief zu Papas Schlafzimmer.

Vorsichtig klopfte ich an und wartete, bis Elias mich hinein bat. „Da bin ich." „Ich seh's. Komm." Der Dunkelhaarige klopfte neben sich aufs Bett und ich folgte seiner Aufforderung. Er trug ebenfalls ein T-Shirt und eine Jogginghose, die Beine hatte er angewinkelt und lehnte sich gegen die Wand am Kopfende des Bettes. Ich krabbelte neben ihn und nahm dieselbe Position ein, dann drehte ich den Kopf in seine Richtung. „Wieso bist du von zu Hause abgehauen? Hat es damit zu tun, dass du so oft unausgeschlafen bist?" Überrascht schaute Elias mich an. „Wie machst du das? Wie erkennst du Zusammenhänge nur immer so schnell?" Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich denke, es hat mit deinen Eltern zu tun." Elias schnaubte abwertend. „Da denkst du richtig." „Was ist bei euch zu Hause los?", erkundigte ich mich besorgt und Elias biss sich auf die Lippe. „Eigentlich ist es nichts. Andere haben viel schlimmere Probleme." „Wenn es für dich ein schlimmes Problem ist, ist es ein schlimmes Problem. Völlig egal, was andere darüber denken." Elias seufzte. „Sie streiten sich. Ständig. Jedes Mal, wenn sie sich sehen. Er brüllt, sie schreit, er schlägt zu." „Schlägt er dich auch?" „Nein, das traut er sich nicht. Er weiß, dass ich mich wehren würde und ich gehe nicht umsonst ins Fitnessstudio und boxe. Aber meiner Mutter sind die Schläge egal. Sie überschminkt die blauen Flecken und tut so, als ob nichts passiert wäre und wenn er das nächste Mal nach Hause kommt, streiten sie sich wieder. Ich hab sie angefleht, ihn zu verlassen oder gemeinsam mit ihm zu einer Therapie zu gehen, aber davon will sie nichts hören. Nach außen hin soll unsere Familie perfekt erscheinen, deshalb sind sie ja auch so glücklich, dass Felix und Maike jetzt geheiratet haben. Maike passt in dieses Bild der perfekten Familie und bestimmt bekommen sie und Felix bald perfekte Kinder." Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen und ich ließ Elias' Worte erstmal sacken. Irgendwann räusperte er sich und sagte: „Irgendwie hab ich das immer zu verdrängen versucht, aber vor zwei Wochen hat mein Vater sie zum ersten Mal mit dem Gürtel geschlagen und da ist mir der Kragen geplatzt. Als er weg war, hab ich meine Mutter angefleht und angeschrien abzuhauen, ihn endlich zu verlassen, aber sie hat mir lediglich eine Ohrfeige gegeben und von mir verlangt, es wie immer niemandem zu sagen. Da war es dann zu viel für mich, also hab ich meine Sachen gepackt und bin getürmt. Meine Eltern haben mich anfangs ständig versucht anzurufen und sind auch in der Schule aufgetaucht, um mich abzupassen, aber ich hab kein Wort mit ihnen geredet und nach ein paar Tagen haben sie aufgegeben." „Wieso gehst du nicht zur Polizei und zeigst deinen Vater an?" „Weil meine Mutter ihn decken würde. Sie würde um jeden Preis verhindern, dass jemand mitbekommt, was bei uns zu Hause abgeht." „Also ist es das, was dich so sauer macht? Dass sie ihn decken würde? Und nicht, dass dein Vater sie schlägt?" „Dass er sie schlägt ist scheiße, aber du hast Recht. Ich bin sauer auf sie, weil sie ihm nicht die Stirn bietet." „Vielleicht hat sie Angst vor ihm." „Die muss sie nicht haben. Ich hab ihr oft genug gesagt, dass ich auf sie aufpassen würde und wenn Felix erstmal davon erfährt, hätte sie gleich zwei Beschützer. Außerdem kann man ja dafür sorgen, dass mein Vater sich ihr nicht mehr nähern darf." Ich schüttelte schwach den Kopf. „Das steht auf Papier, aber in der Realität kann sie nichts machen, wenn er ihr auflauert. Dann steht sie ihm gegenüber und bis die Polizei da ist, kann sonstwas passiert sein. Und du kannst nicht rund um die Uhr ihren Bodyguard spielen und Felix auch nicht." „Sag mal, auf welcher Seite bist du eigentlich?", fragte Elias plötzlich mit einem Anflug von Wut in der Stimme und ich seufzte. „Ich bin auf gar keiner Seite, weil es hier keine Seiten gibt. Sowohl dein Vater, als auch deine Mutter haben ein Problem und du hast versucht, ihnen zu helfen, aber ohne Erfolg. Da gibt es keine Seite. Und ich glaube, du musst erstmal bei dir selbst anfangen und aufhören, auf dich selbst wütend zu sein, weil du auf deine Mutter wütend bist. Du musst dich deswegen nicht schuldig fühlen, es ist nicht deine Schuld, dass sie nicht zur Polizei gehen möchte." Elias seufzte und mir fiel nichts besseres ein, als seine Hand zu nehmen und sie kurz zu drücken, um ihm das Gefühl zu geben, nicht alleine zu sein. Dankbar schaute der Dunkelhaarige mich an. „Aber das Ding ist, nur, weil ich es jetzt nicht mehr ständig mitbekomme, hören die Streitereien und Schläge ja nicht auf. Also was soll ich tun?" „Ich hab keine Ahnung. Aber uns wird etwas einfallen, versprochen." Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, dann schenkte Elias mir ein schwaches Lächeln. „Danke Becks." Ich erwiderte sein Lächeln. „Ich muss dir danken." Jetzt war Elias verwirrt. „Wofür?" „Für dein Vertrauen." Die Mundwinkel des Dunkelhaarigen zuckten nach oben. „Wir sind Freunde. Freunde vertrauen sich." Ich nickte schwach, während sich in meinem Hals ein dicker Kloß bildete. Ich vertraute Lara und Elias doch eigentlich, wieso schaffte ich es dann nicht, ihnen von Paul zu erzählen?

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt