Vermissen

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Besorgt musterte ich Papa, der sich die Haare raufend an seinem Schreibtisch saß und wohl an der Predigt für Sonntag arbeitete. Eigentlich hatte ich ihn zum Mittagessen nach Hause holen wollen, aber als ich jetzt sah, wie beschäftigt er war, drehte ich mich einfach wieder um und schloss die Tür hinter mir. Frau Osterloh saß an ihrem Schreibtisch und legte leicht den Kopf schief. "Er arbeitet sehr viel, nicht wahr?" Ich nickte. "Früher hat er sich nicht so viel Stress gemacht, aber wir sind immer noch neu hier und er möchte, dass jede Predigt perfekt ist. Ich hab nur Angst, dass- dass er nicht bemerkt, wenn er an seine Grenzen stößt." "Du bist ein sehr beeindruckendes Mädchen, Rebecca. Dein Vater hat wirklich Glück mit dir." "Danke. Aber ich weiß nicht, ob ihm das immer bewusst ist. Na ja, auf Wiedersehen, Frau Osterloh." "Mach's gut, Rebecca." Ich verließ die Kirche und lief wieder nach Hause, wo meine Geschwister bereits mit dem Essen begonnen hatten. Mittlerweile hatte ich Jonny ein paar gute Tricks zum Kochen beigebracht und so mussten wir nicht mehr fürchten, unabsichtlich von ihm vergiftet zu werden. Ich wusste auch, dass er nicht mehr mit seinen sogenannten "Freunden" abhing, sondern versuchte, andere Leute kennenzulernen. Dass Josh im Krankenhaus gelandet war, war für Jonny ein riesiger Schock gewesen und obwohl es schrecklich war, glaubte ich fest daran, dass Gott hier seine Finger im Spiel gehabt hatte. Josh ging es mittlerweile wieder gut, aber er hatte mit Sicherheit auch einiges von seinen Eltern zu hören bekommen. Und wie so oft in letzter Zeit, wünschte ich mir, Mama wäre hier und hätte mit Jonny gesprochen. Denn ich hatte das ungute Gefühl, dass er im Moment in einer schwierigen Phase war und mit sich selbst im Konflikt stand und ich hatte Angst, ihn komplett kaputt zu machen, wenn ich ihm gegenüber etwas falsches sagte oder tat. Die Sache mit der menschlichen Psyche war schon verrückt. Wie ein Jahrestag es schaffte, mich so zu beeinflussen und meine Mutter mehr zu vermissen, als in den vergangen knapp 350 Tagen.

"Hey, was machst du gerade schönes?", erkundigte ich mich, während ich mich gegen Marks Türrahmen lehnte. Mein Bruder schaute vom Schreibtisch auf und lächelte mich an. "Ich hab Hausaufgaben gemacht und jetzt muss ich noch Geschichte lernen. Wieso fragst du?" "Einfach so. Wir haben lange nichts mehr zusammen gemacht. Seit wir umgezogen sind, lebt irgendwie jeder für sich." "Und bald ist Mamas erster Todestag, deshalb bedrückt es dich so sehr, dass die Familie auseinander zu brechen scheint", vervollständigte Mark meinen Satz und sprach mir damit direkt aus der Seele. "Ich weiß nicht, wie du es immer schaffst, genau zu wissen, was ich sagen will." "Ich weiß es nicht immer. Aber ich habe oft dieselben Gedanken, wie du. Was hältst du davon, wenn wir am Sonntag nach dem Gottesdienst alle zusammen irgendwohin fahren?" "Denkst du wirklich, dass das klappt? Papa werden 10000 Dinge einfallen, die noch zu erledigen sind, Timo wird seine Ruhe haben wollen und Jonny ist im Moment ziemlich durcheinander und will wahrscheinlich auch eher Zeit für sich haben." Jetzt lächelte Mark wieder besorgt. "Ich wusste, dass du sowas sagen würdest. Becca, ist dir schonmal aufgefallen, dass du immer zuerst mit deiner Familie argumentierst? Dieser gemeinsame Ausflug wäre gut für dich und würde dich glücklich machen, aber in deiner Selbstlosigkeit denkst du immer zuerst an die anderen. Das ist zwar sehr nobel, aber auf Dauer nicht gesund. Du musst auch mal an dich selbst denken." "Aber das wäre unfair! Mir geht es gut und anderen Menschen, die mir wichtig sind, nicht." "Dir geht es nicht gut, Becca. Du gibst dein Bestes, um es zu verstecken, aber ich bin nicht blind. Seit Monaten warte ich darauf, dass du zu mir kommst, um mit mir darüber zu reden, was dich belastet, aber du kommst nicht. Ich habe mit Amelie und Ben zwei wunderbare Freunde, nicht zu viel Stress durch die Schule, es gibt nichts, was mich im Moment belastet. Du könntest jederzeit mit mir reden, aber du tust es nicht. So wie ich dich kenne, liegt es daran, dass du möchtest, dass ich mein Leben lebe und genieße. Aber das kann ich nicht, wenn es dir nicht gut geht." Seine Worte brachten meine Augen zum Stechen, aber ich wollte nicht weinen. Seit Pauls letztem Besuch hatte ich es geschafft, meine Gefühle wegzusperren und daran würde sich jetzt nichts ändern. So sehr sich in diesem Moment alles in mir dagegen sträubte, schaute ich Mark mit meinem authentischsten Lächeln an und sagte: "Mir geht es wirklich gut, du siehst Gespenster. Und das mit dem Familienausflug machen wir ein anderes Mal, wenn sich hier alles beruhigt hat." Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging.

Lächelnd musterte ich das Foto in meinen Händen. Es war ein Selfie von Lara, Elias und mir am See, das Lara für uns alle ausgedruckt hatte. Die Kirchenbank unter mir knarzte und mein Blick glitt nach vorne. Das dunkle Kreuz aus Holz, das auf der Empore stand, warf einen breiten Schatten auf die Wand hinter sich und ich fragte mich, wie ich hier gelandet war. Seit wann ging ich in die Kirche, um meine Ruhe zu haben? Früher hatte dafür immer mein Zimmer gereicht. Seufzend schaute ich wieder auf das Foto und begann automatisch erneut zu lächeln, als ich Elias' Grinsen erblickte. Es war unglaublich, wie sein bloßer Anblick meine Stimmung verbesserte. Ohne, dass ich es gemerkt hatte, war er mir unglaublich wichtig und ein wirklich guter Freund geworden. Und auch Lara war mir mehr ans Herz gewachsen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die beiden waren wie Familie für mich, ohne wirklich Familie zu sein. Sie waren nicht wie Geschwister, sie waren etwas ganz besonderes. Etwas, das ich nie mehr missen wollte. Ich schloss kurz die Augen und als ich sie wieder öffnete, saß eine mir bekannte, dunkelblonde Frau vor mir mit dem sanftesten Lächeln, das ich je gesehen hatte. Auch ich musste lächeln, während mir Tränen in den Augen standen. Sie legte ihre Hand sanft auf meine Wange und ich schmiegte mich dagegen, so vertraut war diese Geste und so voller Geborgenheit war dieser Moment. "Du schaffst das, mein Schatz. Ich bin immer bei dir." Ihre Stimme hatte kein bisschen an Klang oder Wärme verloren. Als ich ihr antworten wollte, brachte ich kaum mehr als ein Flüstern zustande. "Danke Mama."

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt