Besorgnis

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"Mach's gut Onkel Paul!", rief Tabea unserem Onkel nochmal hinterher, dann schloss ich schnell die Haustür und schickte meine kleine Schwester nach oben. Drei Tage war er geblieben, von Samstag bis Montag, und jetzt war er endlich abgereist. Ich schluckte und lief hoch ins Bad, wo ich mich vor den Spiegel stellte und mein Oberteil hochzog. An meiner Hüfte und am Bauch waren überall blaue Flecken, knapp über dem Hosenbund konnte ich sogar Pauls Handabdruck erkennen. Leise seufzend zog ich das Oberteil wieder runter und hob meine Haare an, damit ich meinen Hals betrachten konnte, der von mehreren Knutschflecken gekennzeichnet war. Plötzlich wurde die Tür geöffnet und ich zuckte erschrocken zusammen. Anscheinend hatte ich nicht abgeschlossen, denn jetzt stand Timo vor mir und grinste wissend. "Hast du einen Freund?" Ich schüttelte eilig den Kopf. "Jaja, wer's glaubt. Lass dass bloß Papa nicht mitkriegen, der bekommt 'nen Kollaps, wenn die erste seiner geliebten Töchter jetzt schon mit Jungs rummacht." Genervt verdrehte ich die Augen. „Ich mache nicht mit Jungs rum, damit das klar ist. Im Gegensatz zu dir hab ich es nicht so eilig, ein Kind zu bekommen." Damit spielte ich auf eine Exfreundin von Timo an, die mal gedacht hatte, sie sei schwanger von ihm. Das war zwar schon zwei Jahre her, aber mein Bruder wurde immer noch kalkweiß, wenn er an diese Geschichte erinnert wurde. Genauso war es auch jetzt und er kniff leicht die Augen zusammen, bevor er wütend zischte: „Halt die Fresse und mach' dich ab." Da ich keine Lust auf Streit hatte, verließ ich wortlos das Bad und lief in Tabeas Zimmer. Meine Schwester saß an ihrem Schreibtisch und wirkte ziemlich verzweifelt. Als sie mich entdeckte, hellte sich ihre Miene automatisch auf. „Becca! Ich brauch' dein Hilfe, Mathe ist so schwer." Lächelnd schloss ich die Tür hinter mir und kniete mich neben ihren Schreibtisch. „Wo liegt denn das Problem?"

Völlig übermüdet rieb ich mir die Augen und unterdrückte ein Gähnen. „Lange Nacht gehabt?" Erschrocken zuckte ich zusammen und starrte Elias entsetzt an, der vor mir stand und mich angrinste. Hinter ihm entdeckte ich eine Säule, gegen die ich wohl gelaufen wäre, wenn er mich nicht gebremst hätte. Schwach lächelte ich ihn an. „Wir hatten bis gestern Abend Besuch, deshalb konnte ich die Hausaufgaben nur noch heute Nacht machen." „Jetzt versteh' ich wieder, warum alle dich als Streberin bezeichnen. Nachts Hausaufgaben machen? Was läuft denn falsch bei dir?" Genervt verdrehte ich die Augen. Mir gefiel die Richtung nicht, die dieses Gespräch zu nehmen schien. "Danke, dass du mich vor der Säule gerettet hast", wechselte ich also unauffällig das Thema und mein Gegenüber grinste mich bloß an. "Wenn du mich brauchst, bin ich jederzeit dein Ritter in schimmernder Rüstung." Jetzt musste ich auch schmunzeln, dieser Junge hatte eindeutig nicht alle Tassen im Schrank. Versöhnlich nickte ich in Richtung des Ganges zu unserer Linken. "Gehen wir zu Französisch?" "Gerne." Schweigend liefen wir nebeneinander her, während mir auffiel, dass ich praktisch nichts über Elias wusste. Jedoch hatte ich nicht vor, das schnell zu ändern, denn eigentlich interessierte er mich nicht besonders. Mich schien er jedoch extrem interessant zu finden, so oft wie er mir auflauerte oder mich ansprach. Wir erreichten den Raum und ließen uns auf unsere Plätze fallen. Kaum hatte ich meine Sachen ausgepackt, ließ Lara sich neben mich fallen und ich lächelte sie an. Sie erwiderte es schwach, wandte sich dann jedoch ihrem Rucksack zu. Besorgt kniff ich die Augenbrauen zusammen und musterte sie. Abgesehen von den dunklen Augenringen sah sie erschöpft und auch ein wenig fiebrig aus. Vorsichtig beugte ich mich in ihre Richtung. "Alles okay bei dir?" Sie nickte. "Klar, alles super." Ich wollte weiter nachfragen, aber in diesem Moment betrat die Lehrerin das Zimmer und es wurde ruhig. Als ich Lara nach der Stunde nochmal ansprechen wollte, war sie schon aufgestanden und aus dem Klassenzimmer geflohen. Schnell stopfte ich meine Sachen ebenfalls in meine Tasche, erhob mich und eilte ihr hinterher. Neben mir ertönte ein Keuchen und ich entdeckte Elias. Wen auch sonst? "Läufst du vor mir weg?", erkundigte er sich schmunzelnd und ich schüttelte ernst den Kopf. "Ich muss Lara finden." Verwirrt schaute der Dunkelhaarige mich an. "Wieso?" "Ist dir nicht aufgefallen, wie schlecht sie aussah? Als wäre sie krank und zwar ziemlich schlimm." "Echt jetzt? Das hab ich gar nicht bemerkt." Wütend schaute ich ihn an. "Keiner an dieser Schule schert sich einen Dreck um sie, war ja klar, dass es niemandem auffällt!" "Hey, du musst mich nicht gleich anschreien. Lara ist halt- na ja-" "Sie ist das Opfer der Schule, schon klar. Was eine Scheiße. Ich weiß, dass sie gemobbt wird und das ist einfach abartig. Nur weil sie ein bisschen kräftiger ist und gute Noten schreibt? Das sind doch keine Gründe sie fertigzumachen!" Besänftigend schaute Elias mich an. "Beruhig' dich bitte. Okay, es ist scheiße, dass wir sie immer alle auslachen und es tut mir wirklich Leid. Aber wenn es alle machen-" Ich zog streng die rechte Augenbraue hoch. "Dann fehlt dir etwas Entscheidendes, nämlich Rückgrat. Man muss dem Gruppenzwang nicht immer zum Opfer fallen. Und jetzt halt die Klappe und schau dich um, ob du sie irgendwo entdeckst." Elias schwieg betroffen, während ich mich besorgt umschaute und Lara tatsächlich entdeckte. Sie lief taumelnd Richtung Mädchentoiletten. "Elias, da ist sie!" Ohne auf ihn zu warten, lief ich los und verschnellerte meine Schritte. Lara wollte gerade die Tür zum Klo aufmachen, als sie zusammenbrach. "Lara!", schrie ich entsetzt und hechtete zu ihr. Atemlos ließ ich mich auf die Knie sinken und klatschte gegen die Wangen der Dunkelblonden. "Hey Lara, mach die Augen auf, bitte." Sie rührte sich nicht, weshalb ich schnell Puls und Atmung kontrollierte und sie dann in die stabile Seitenlage brachte. Neben mir erschien Elias und ich schaute zu ihm hoch. "Sie ist bewusstlos, ruf einen Krankenwagen." Er nickte und ich wandte mich den Schülern zu, die um uns herumstanden. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich bemerkte, dass fast alle ihre Handys gezückt hatten und das Geschene zu filmen und fotografieren schienen. Wütend fauchte ich sie an. "Packt eure Handys weg, das ist doch hier keine Attraktion. Habt ihr nichts besseres zu tun, als zu glotzen?" Die meisten grinsten nur, in diesem Moment schob Mark sich durch die Menge, hinter ihm zwei Lehrer. Erleichtert und dankbar schaute ich meinen Bruder an, dann erzählte ich den beiden Lehrern in knappen Worten, was vorgefallen war. Knappe zehn Minuten später kam dann endlich der Krankenwagen und die Sanitäter schoben mich beiseite. Ich wurde hochgezogen, doch meine Beine trugen mich im ersten Moment nicht, weshalb ich leicht gegen Elias fiel, der mich reflexartig festhielt. "Hey, nicht auch noch schlapp machen." Ich nickte schwach und bemerkte erst jetzt, dass ich zitterte. Besorgt beobachtete ich, wie die Sanitäter an Lara herumwerkelten, dann öffnete sie endlich blinzelnd die Augen. "Willkommen zurück. Wie fühlst du dich?", begrüßte sie einer der Sanitäter und sie zuckte schwach die Schultern. Vorsichtig wurde sie auf eine Trage gelegt und ich hob schnell ihren Rucksack auf, wobei eine Palette Tabletten herausfiel. Erschrocken hob ich sie auf und las die Rückseite. Mir traten Tränen in die Augen, als mir klar wurde, worum es sich handelte. Niedergeschlagen reichte ich den Sanitätern Laras Rucksack und die Tabletten. "Ich glaube das sind Pillen zum Abnehmen." Mein Blick fiel auf das dunkelblonde Mädchen auf der Trage. "Verdammt, ich hätte was merken müssen. Ich wusste doch, dass sie gemobbt wird." Eine Hand legte sich auf meine Schulter; es war Elias. "Mach dir keine Vorwürfe. Du warst die Einzige, die sie nicht gemobbt hat, sondern immer nett zu ihr war. Die Schuld liegt bei jedem außer dir, Rebecca." Mit Tränen in den Augen schaute ich den Sanitäter an. "Kann ich mitkommen ins Krankenhaus? Ich will sie nicht alleine lassen und sie freut sich bestimmt über ein bekanntes Gesicht, wenn sie wieder zu sich kommt." Der junge Mann seufzte und schaute fragend die beiden Lehrer hinter uns an. Zu meiner Erleichterung nickte Herr Becker. "Wir informieren Laras Eltern und Elias soll dich im Unterricht entschuldigen. Ohne deine tolle Erste Hilfe, hätte das ganz anders laufen können." "Danke." Mark reichte mir meine Umhängetasche und drückte mir einen Kuss auf die Wange, was mich leicht lächeln ließ. "Sag Papa bitte Bescheid, wo ich bin und ich melde mich. Nach Hause komme ich dann wahrscheinlich mit dem Bus. Im Kühlschrank sind noch Reste vom Essen von gestern, mach einfach ein paar Nudeln dazu. Wir sehen uns." Mark nickte und verabsvhiedete mich mit unserem Handschlag, dann folgte ich den Sanitätern zum Krankenwagen, ohne Lara aus den Augen zu lassen. Trotz Elias' Worten machte ich mir weiterhin Vorwürfe, dass ich es nicht früher bemerkt hatte.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt