Papa

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"Tabea, hör auf die ganze Zeit an deinem Kleid herumzuziehen! Du machst es noch kaputt!", maßregelte ich meine kleine Schwester, die zum Glück sofort auf mich hörte. "Jungs, seid ihr fertig?", rief ich laut und wenige Sekunden später standen Timo, Mark und Jonny vor mir. "Ganz ruhig, wir sind ja schon da." "Ich kann nicht ruhig bleiben. Heute kommt dieser Gast, von dem Papa die ganze Woche gesprochen hat und da muss alles im Gottesdienst perfekt laufen! Ich hab mir Papas Predigt diese Woche jeden Tag mehrfach anhören müssen, sodass ich sie jetzt wahrscheinlich schon selbst halten könnte. Dieser Gottesdienst ist besonders wichtig für ihn, dabei geht es auch um seinen Job. Also los, ich will auf keinen Fall zu spät kommen!" Auf meine Worte folgte kein Widerspruch und wir liefen alle so schnell wie möglich nach draußen. Während Timo den Motor startete, versuchte ich tief durchzuatmen und mir vorzustellen, wie es Papa wohl gerade ging. Heute musste er diesen Vorgestzten oder was auch immer es war von sich überzeugen und nächsten Sonntag war Mamas erster Todestag. Ich schluckte und als wir aus dem Auto gestiegen waren, suchten wir uns so schnell wie möglich Plätze in der ersten Reihe. Nur wenige Sekunden nachdem wir uns hingesetzt hatten, setzte die Orgelmusik ein und Papa trat aus dem Seitengang in den Hauptteil der Kirche. Er lief nach vorne zum Altar und betete, dann endete das Lied und der Gottesdienst begann. Als schließlich vor der Predigt der Lobpreis stattfand, fiel mein Blick wieder auf meinen Vater, der im Seitengang stand. Er stützte sich gegen die Wand und zog an seinem Kragen, als bekäme er keine Luft mehr. Besorgt erhob ich mich und lief so unauffällig wie möglich zu ihm. "Papa, alles okay?" Anstelle einer Antwort schüttelte er den Kopf und ich hörte ihn keuchend nach Luft schnappen. Tränen liefen über seine Wangen und ich brauchte nur wenige Sekunden, um zu begreifen, dass er gerade einen psychischen Zusammenbruch hatte. Schnell packte ich ihn am Arm und zog ihn weg vom Gottesdienst in sein Büro. Dort setzte ich ihn auf seinen Stuhl und öffnete den Talar, dann durchsuchte ich seine Schubladen hektisch nach einer Tüte und fand tatsächlich eine, die ich ihm in die Hand drückte. Zittrig griff er danach und ich befahl ihm, ruhig in die Tüte zu atmen. Er tat es, doch eine Verbesserung machte sich nicht wirklich bemerkbar. Verzweifelt zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche und schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten war der Lobpreis vorbei, dann kam eigentlich die Predigt, aber Papa konnte so nicht predigen. "Ich rufe jetzt einen Krankenwagen", sagte ich entschlossen, doch mein Vater schüttelte keuchend den Kopf. "Papa, bitte. Du bist nicht fit, so kannst du nicht predigen." Hinter mir erklangen plötzlich Schritte und ich entdeckte Timo und Frau Osterloh. "Was ist los?" "Er bekommt kaum Luft und zittert und es geht ihm einfach richtig beschissen", informierte ich die beiden und sofort war Papas Sekretärin bei ihm. "Das sieht aus wie eine Panikattacke. Er sollte ins Krankenhaus." "Das hab ich auch gesagt, aber gleich muss jemand die Predigt halten!" "Dann mach du das", warf Timo ein und ich schaute ihn entsetzt an. "Wie bitte?" "Du hast vorhin gesagt, du hättest die Predigt so oft gehört, dass du sie schon selbst halten könntest", erinnerte mein Bruder mich und ich schaute ihn mit großen Augen an. Auch Frau Osterloh schien diesen Plan für den besten zu halten. "Na los, wir ziehen Ihrem Vater den Talar aus und Sie ziehen ihn an, Rebecca. Timotheus, Sie rufen einen Krankenwagen!" Wir machten es genau so, wie die Sekretärin es sagte und plötzlich stand ich mit Papas Aufzeichnungen in der Hand und seinem Talar über meiner Bluse im Seitengang und wartete auf das Ende des Liedes. Beim Laufen musste ich den Talar etwas anheben und es gab mir nicht gerade ein Gefühl von Sicherheit, dass die Leute zu tuscheln begannen. Als ich schließlich an der Kanzel stand, räusperte ich mich. "Pastor Lorenzen ist leider gesundheitlich verhindert, weshalb ich heute für ihn die Predigt halten werde. In seinem Brief an die Galater schreibt Paulus-"

"Ich bin sehr beeindruckt, Rebecca. Sie sollten ernsthaft darüber nachdenken, in die Fußstapfen Ihres Vaters zu treten und Pastorin zu werden." "Vielen Dank, Herr Kreimer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag." Mit noch immer leicht vor Adrenalin zitternden Fingern schüttelte ich dem Mann vor mir die Hand, dann kam die Zerreißprobe, denn der besondere Gast des Gottesdienstes trat vor mich und reichte mir ebenfalls die Hand. "Eine wirklich ausgezeichnete Predigt, Frau Lorenzen. Bitte richten Sie Ihrem Vater meine Besserungswünsche aus und sagen Sie ihm, dass ich ihn in ein paar Tagen anrufen werde, wenn er hoffentlich wieder genesen ist." "Vielen Dank und schönen Sonntag noch." Erleichtert atmete ich tief durch und strich mir eine lose Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr. "Du warst großartig, Sonnenschein." Überrascht schaute ich nach links und direkt in Elias' braune Augen. "Hey, ich hab dich gar nicht gesehen", stellte ich überrascht fest. "Dafür siehst du mich ja jetzt. Was war los mit deinem Vater?" Ich seufzte. "Eine Panikattacke oder sowas. Er hat sich totalen Stress wegen heute gemacht und generell ist es im Moment einfach alles etwas viel für ihn, denk ich." "Sag ihm auf jeden Fall gute Besserung von mir! Sehen wir uns morgen in der Schule?" "Jap, bis morgen." Ich schüttelte noch einigen Leuten die Hand, dann war die Kirche bis auf mich leer. Erleichtert zog ich mir den Talar aus, unter dem es ziemlich warm geworden war, und legte ihn zusammen. Schnell brachte ich ihn in Papas Büro, dann zog ich mein Handy hervor und schrieb Timo, dass er mich abholen und ins Krankenhaus fahren sollte. Schon nach wenigen Minuten stand das Auto vor mir und ich stieg ein. "Was haben die Ärzte gesagt?" "Dass das eine Art abgeschwächter Burnout war. Er ist eindach mit den Nerven am Ende und soll eine Therapie machen. Am besten in einer extra Klinik." "Er soll in die Psychiatrie? Oh mein Gott, wieso hab ich nichts unternommen? Ich hab doch gemerkt, dass er im Stress war!" "Hey, mach dir keine Vorwürfe, Becca. Du hast immerhin gesehen, dass er total im Stress war. Ich wurde damit heute völlig überrascht und die anderen hatten auch nicht auf dem Schrim, dass es so schlimm um ihn steht." "Sind die anderen noch bei ihm?" Timo nickte. "Du hast ja mitbekommen, dass ich sie direkt nach dem Gottesdienst abgeholt habe, während du dich noch von den Besuchern verabschieden musstest. Wie ist es eigentlich gelaufen?" Ich musste trotz der Situation schmunzeln. "Ich habe nichts negatives gehört und mehrere Leute haben mir sogar ans Herz gelegt, Pastorin zu werden." "Wow, ich bin beeindruckt. Sag das genau so bitte Papa, das wird ihn nochmal beruhigen." Ich nickte und atmete tief durch, dann schaute ich Timo fragend an. "Ein stationärer Aufenthalt wäre wirklich das Beste für ihn, oder?" "Ja, ich denke schon." "Dann soll es so sein. Wir werden es irgendwie ein paar Wochen ohne ihn schaffen müssen, damit er wieder gesund werden kann. Oh Gott, das hätte heute viel schlimmer ausgehen können. Wie konnte ich nur so blind sein?"

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt