Elias

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Überrascht starrte Lara mich an. "Hey, was machst du hier?" "Was meinst du? Ich bin in der Schule, heute ist Donnerstag." "Genau, heute ist Donnerstag. Am Dienstagabend wurde dein Freund verhaftet, gestern war ich bei dir zu Hause und du warst kaum ansprechbar und heute bist du in der Schule?" "Ich hab mich gestern gehen lassen, aber damit ist jetzt Schluss", verkündete ich entschlossen und ignorierte den besorgten Blick meiner besten Freundin geflissentlich. "Becca, die ganze Schule weiß von seiner Verhaftung und es wissen auch alle, dass er vor deinem Haus verhaftet wurde, weil er dort seit einigen Wochen gewohnt hat. Die Gerüchteküche brodelt, das wird ein Spießrutenlauf für dich. Möchtest du das wirklich in Kauf nehmen?" "Ich kann nicht die Schule schwänzen, nur weil die Leute reden. Irgendwann müsste ich sowieso wiederkommen, also wieso nicht heute?" "Weil du gestern ein Wrack warst. Du hast gezittert wie Espenlaub und abwechselnd apathisch die Wand angestarrt und mit einem Heulkrampf gekämpft. Ich hab dich noch nie so gesehen und deine Familie nur ein einziges Mal und zwar am Tag nach dem Tod deiner Mutter." Ich biss mir auf die Lippe. "Lara, der Junge, den ich liebe, wurde vorgestern vor meinen Augen verhaftet, ich darf ihn nicht besuchen und darf keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen. Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihm die Wahrheit zu sagen und im Moment scheint die gesamte Illusion zu zerbrechen, die ich mir in den letzten Wochen so schön aufgebaut habe. Wenn du also nichts dagegen hast, dann würde ich mich jetzt gerne von diesem ganzen Mist ablenken, indem ich in die Schule gehe und mich mit der galvanischen Zelle auseinandersetze." Ohne ein weiteres Wort schob ich mich an der Dunkelblonden vorbei und betrat den Schulhof. Innerhalb weniger Sekunden hinterfragte ich meine Idee, denn Lara hatte Recht. Egal, wo ich hinkam, jeder starrte mich an und alle, die tuschelten, hörten urplötzlich auf, wenn ich an ihnen vorbeilief und fingen sofort wieder an, wenn ich sie hinter mir gelassen hatte. Mit einem gespielt großen Selbstbewusstsein lief ich zum Klassenzimmer für die ersten zwei Stunden und auch hier war ich das Thema Nummer 1. Angestrengt versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Ich musste nur diesen Vormittag durchstehen. Um 12.40 Uhr hatte ich es für heute geschafft, ich musste nur bis dahin durchhalten.


Lachend schaut Elias mich an und legt seine Hand auf meine Wange. "Du bist wirklich faszinierend Sonnenschein, weißt du das?" Lächelnd schüttle ich den Kopf. "Wie kommst du darauf?" "Du merkst es vielleicht nicht, aber du tust mir gut. In den letzten Monaten und Jahren, ist meine Welt immer dunkler geworden. Irgendwann war alles nur noch schwarz und weiß und grau und ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte." "Aber wie soll ich dir da bitte geholfen haben?", frage ich verwirrt und Elias sieht mich liebevoll an. "Du bist mit einem Eimer Farbe gekommen, hast ihn und mein Leben auf den Kopf gestellt und meine Welt wieder bunt gemacht." Ich muss schmunzeln. "Du weißt schon, dass das ziemlich kitschig war?" "Das ist mir egal. Hauptsache, es lässt mich dieses wunderschöne Lächeln auf deinen Lippen sehen." Er küsst mich sanft und schaut mich dann mit schiefgelegtem Kopf an. Ich beginne bei diesem Anblick automatisch zu lächeln und er erwidert es. "Na also, genau das hab ich gemeint."
Das Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken. "Herein!" Mein Vater betrat das Zimmer und schaute mich besorgt an. "Hey Becca, alles okay? Abgesehen von dem offensichtlichen?" Ich nickte so überzeugend wie möglich und Papa lächelte schwach. "Ich werde mich heute wieder ums Essen kümmern, ja? Einer der Jungs kommt dich dann holen." Ich nickte bloß und schaute wieder auf meine vor mir liegenden Schulsachen, woraufhin ich hörte, wie Papa meine Tür wieder schloss und mich mit meinem Gedanken- und Erinnerungschaos alleine ließ. Doch so sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich beim besten Willen nicht auf Französisch konzentrieren. Mein Kopf war bei Elias, in jeder einzelnen Sekunde. Ich fragte mich, was er gerade tat, wo er jetzt war, wie er sich fühlte oder ob er auch in diesem Moment an mich dachte. In den letzten Wochen hatte ich mich so sehr an seine Nähe und seine ständige Anwesenheit gewöhnt, dass mir erst jetzt auffiel, wie abhängig meine Laune von seinem Dasein war. Seit er verhaftet worden war, fühlte ich eine seltsame Leere, für deren Beschreibung ich keine Worte fand. Wir hatten versucht etwas bei der Polizei herauszufinden, aber man sagte uns nichts. Elias' Bruder Felix und seine Frau Maike hatten nicht auf Papas Anrufe reagiert und die Tür nicht geöffnet, als er bei ihnen geklingelt hatte. Andere Verwandte meines Freundes kannte ich nicht und zu seinen Eltern durfte ich nicht, nachdem ich Herrn Oberle so angeschrien hatte. Es machte mich verrückt, dass ich nur hier sitzen und abwarten konnte, was passieren würde ohne zu wissen, was genau vor sich ging. War Elias irgendwo eingesperrt? In einer Zelle, vielleicht in Untersuchungshaft? Oder war er bei seinen Eltern zu Hause und wurde dort festgehalten und überwacht? Hatte sich das Ganze vielleicht schon geklärt und seine Eltern wollten aber nicht, dass er das Haus verließ? Frustriert über all die ungelösten Fragen raufte ich mir die Haare und schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. Wir hätten kommen sehen müssen, dass seine Eltern irgendetwas tun würden. Ich hätte nach dem Anruf von Elias' Vater keine zehn Minuten brauchen dürfen, um zu verstehen, was er mir gerade gesagt hatte. Seufzend schloss ich die Augen und versuchte mich an das Telefonat zu erinnern. Er hatte mich ein dreckiges Miststück genannt und behauptet, ich wolle nur das Geld von Elias' Familie in die Finger kriegen. Ich war mir nicht sicher, ob er einfach nur keine gute Erklärung dafür gefunden hatte, mich zu hassen oder, ob er tatsächlich an den Unsinn glaubte, den er mir vorgeworfen hatte. Aber es brachte ja alles nichts, so half ich Elias nicht. Entschlossen, mir irgendetwas einfallen zu lassen, griff ich nach meinem Handy und rief Lara an.

Zwei Stunden nachdem ich sie um den Gefallen gebeten hatte, rief sie mich an. "Er fährt zum Supermarkt. Ich denke, das ist die Gelegenheit, die du haben wolltest." "Ja, das ist perfekt. Danke Lara, ich schulde dir was." "Ich halte immer noch nichts von deiner Idee." "Es ist die einzige, die ich habe. Ich ruf dich nachher an und erzähle dir, wie es gelaufen ist." Entschlossen legte ich auf und schnappte mir meinen Hausschlüssel. Ohne gesehen zu werden schaffte ich es aus dem Haus, stieg auf mein Fahrrad und fuhr los.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt