Ich brauche deine Hilfe

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"Paul, was machst du denn hier? Oh, und Katja, hallo. Kommt doch rein." Ich versuchte meinen Schock zu überwinden und ließ meinen Onkel und seine Freundin das Haus betreten, dann rief ich direkt nach meinen Geschwistern. Jonny, Mark und Tabea kamen kurze Zeit später nach unten, Timo war noch in der Uni. "Hey, cool, dass ihr da seid", begrüßte Jonny unsere Gäste und ging mit ihnen und meinen Geschwistern ins Wohnzimmer. Ich folgte in deutlichem Abstand. "Wir mussten doch sehen, wie es euch geht und ob ihr Hilfe braucht. Becky, Katja möchte dir heute gerne beim Kochen und mit der Wäsche helfen." Genannte lächelte mich freundlich an und es brach mir das Herz, dass sie offensichtlich immer noch nicht wusste, an was für ein Arschloch sie da geraten war. "Das ist sehr nett von dir", sagte ich jedoch bloß, dann erkundigte ich mich, wie lange die beiden bei uns bleiben wollten. "Katja muss morgen wieder zurück, aber ich bleibe mindestens bis übermorgen." Paul grinste und mir wurde schlecht, doch ich überspielte es und tat so, als würde mich das freuen. "Dann beziehe ich euch mal das Gästezimmer." "Ich kann dir gerne dabei helfen", bot Katja an und bevor ich widersprechen konnte, war sie bereits aufgestanden. Also nickte ich bloß und führte sie ins Gästezimmer, wo wir uns schweigend an die Arbeit machten, bis ich irgendwann nicht mehr an mich halten konnte. "Ich kenne dich kaum und will dir nicht vorschreiben, was du zu tun und zu lassen hast. Aber du scheinst ein wirklich netter Mensch zu sein und Paul ist das nicht. Ich lege dir dringlichst ans Herz, dich von ihm zu trennen. Er wird dich verletzen, wie du es dir nicht annähernd vorstellen kannst." Entsetzt schaute Katja mich an, doch sie ließ meine Aussage unkommentiert und wir bezogen einfach die Betten fertig, bevor wir zurück ins Wohnzimmer gingen. Katja tat so, als sei nichts gewesen, während ich das Gefühl hatte, mir sei eine Last von den Schultern genommen worden. Ich hatte sie gewarnt, jetzt lag es in ihrer eigenen Hand.

"Morgen Sonnenschein." "Morgen." Schweigend reichte Elias mir seinen Kaffee und ich nahm sofort einen großen Schluck davon, bevor ich ihm den Becher zurückgab. "Danke." "Kein Ding. Schlecht geschlafen?" Ich seufzte. "Gar nicht geschlafen trifft es eher. Du?" "Dasselbe. Woran lag's?" Ich schluckte. "Wir haben Besuch, da komme ich nachts nicht wirklich zur Ruhe." Dass ich die ganze Nacht lang befürchtet hatte, Paul würde sich heimlich in mein Zimmer schleichen, behielt ich für mich. Elias nickte bloß. "Wieso konntest du nicht schlafen?", erkundigte ich mich vorsichtig und der Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern. "Zu viel im Kopf. Gehen wir zu Französisch?" "Jap." Schweigend liefen wir nebeneinander her zum Klassenzimmer und ließen uns dort auf die beiden Plätze fallen, auf denen wir meistens saßen. Mittlerweile hatte ich kein Problem mehr damit, dass Elias sich überall neben mich setzte, im Gegenteil. Ich genoss seine Anwesenheit sogar ab und zu, besonders wenn er mich zum Lachen brachte und so vom langweiligen Unterricht ablenkte. Doch heute brauchten wir beide keine Ablenkung, dafür waren wir viel zu müde. Aber trotz meiner Müdigkeit schoss mir durch den Kopf, dass Elias oft morgens müde war und ich fragte mich, ob er vielleicht generell nicht gut schlief und welchen Grund das haben könnte. Aber um Hypothesen aufzustellen, war ich dann doch zu müde, weshalb ich mich in den folgenden 90 Minuten damit begnügte, meinen schweren Kopf auf meinem unbequemen Mäppchen abzulegen.

Als ich nach Hause kam, war alles still. Irritiert, weil Tabea und Mark eigentlich hätten zu Hause sein müssen, lief ich die Treppe hoch und schaute in ihre Zimmer. Beide waren nicht da, weshalb ich Mark eine WhatsApp schrieb, die er innerhalb weniger Sekunden beantwortete. Tabea und er waren spazieren gegangen, weil Katja sich von Paul getrennt hatte und dieser daraufhin wütend das Wohnzimmer verwüstet und herumgeschrien hatte. Ich steckte mein Handy wieder weg und lief nach unten ins Wohnzimmer, wo ich wie erstarrt im Türrahmen stehenblieb. Vor mir herrschte das reinste Chaos und Paul saß mittendrin auf dem Sessel und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. "Paul?", fragte ich vorsichtig und er hob ruckartig den Kopf. Bevor ich etwas sagen oder tun konnte, war er aufgesprungen, zu mir gelaufen und hatte mich an den Handgelenken gepackt. "Du elendige Schlampe! Was fällt dir ein, Katja sowas zu sagen? Du dreckiges Miststück, dafür sollte ich dich prügeln, bis du blau und grün bist! Ich hasse dich, du verlogenes Stück Scheiße! Dafür wirst du mir büßen!" Er holte aus und gab mir eine so heftige Ohrfeige, dass ich leicht zur Seite stolperte. Entsetzt starrte ich meinen Onkel an, der ein weiteres Mal ausholt und mir dieses Mal mit der Faust aufs Auge schlug. Ich fiel zu Boden und war ihm spätestens jetzt vollkommen ausgeliefert. Ohne Erbarmen trat Paul auf mich ein, auf meinen Kopf, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine, keine Stelle blieb verschont. Ich lag irgendwann nur noch vor Schmerzen wimmernd auf dem Boden und ließ es über mich ergehen; jegliche Kraft, um mich zu wehren, schien mir abhanden gekommen zu sein. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Pauls Wutrausch nach und er ließ von mir ab. Seine Schritte entfernten sich und ich hörte nur noch seine Stimme, die rief: "Räum gefälligst das Wohnzimmer auf, bis ich wieder da bin!", dann erklang das Knallen der Haustür und ich schnappte keuchend nach Luft. Alles brannte und tat weh, mein Kopf dröhnte und schien zu platzen, aber jetzt war nicht die Zeit, um Schwäche zu zeigen. Unter großer Anstrengung erhob ich mich und griff mit zitternden Händen nach meinem Handy. Schnell schrieb ich Mark, dass er Tabea noch eine Stunde beschäftigen sollte, während ich Paul beruhigen würde. Mein Blick glitt durch das völlig verwüstete Wohnzimmer, das ich niemals alleine aufräumen konnte, schon gar nicht mit diesen Schmerzen. In meiner Verzweiflung griff ich wieder nach meinem Handy und rief Lara an, aber sie hob nicht ab. Unschlüssig ließ ich meine Finger über der Tastatur schweben, dann entschied ich mich für die Notlösung. Meine Geschwister durften mich auf keinen Fall so sehen, also kam nur eine einzige andere Person in Frage. Mit angehaltenem Atem wählte ich Elias' Nummer und als er abhob, brachte ich nur fünf Worte über die Lippen: "Ich brauche deine Hilfe. Bitte."

"Oh mein Gott, was ist passiert?", entfuhr es Elias, als ich ihm die Haustür öffnete. "Können wir die Fragen später klären? Wir müssen das Wohnzimmer aufräumen und haben dafür nur etwa eine halbe Stunde Zeit." "Wie kannst du jetzt bloß an euer Wohnzimmer denken?! Wer hat dich verprügelt?" Ich schluckte und senkte den Kopf. "Das ist eine lange Geschichte." "Sag mir, wer es war." "Mein Onkel. Aber ich bin selbst daran Schuld." "Das glaube ich dir keine Sekunde lang." "Bitte Elias, lass uns aufräumen und danach wegfahren, damit meine Geschwister mich nicht so sehen." Elias seufzte. "Also schön. Aber du wirst mir alles erklären, kapiert?" "Ja. Und jetzt los, wir verlieren Zeit." So schnell wie möglich brachten wir das Wohnzimmer in seinen alten Zustand, entsorgten die kaputten Bilderrahmen und ich schrieb mir auf, welche Maße sie hatten, damit ich neue kaufen konnte. Als alles wieder ordentlich aussah, rieb ich mir erschöpft über die Stirn und lehnte mich gegen die Wand. Elias schaute auf die Uhr. "Wir müssen los, deine Geschwister kommen gleich." "Okay. Ich schreibe Mark noch schnell, dass sie Pizza bestellen sollen und lege Geld auf den Küchentisch." Fünf Minuten später saß ich in Elias' Auto und er startete den Motor. Wir waren keine zehn Meter gefahren, da stellte er bereits die Frage, vor der ich mich in der letzten Stunde am meisten gefürchtet hatte. "Also, was ist passiert?"

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt