Unroutinierte Routine

270 17 0
                                    

"Alles klar, dann übernimmt Pfarrer Hirschens den ersten Sonntag nach Papas Rückkehr und Pastor Klirre den zweiten. Am dritten wird mein Vater vermutlich wieder selbst predigen." Auf meine Worte hin nickte Frau Osterloh und schaute mich dann lächelnd an. "Wie kommen Sie zu Hause zurecht ohne Ihren Vater?" Ich musste schmunzeln. "Frau Osterloh, ich sage Ihnen seit Tagen, dass Sie mich nicht sietzen sollen, weil ich erst 17 bin." Jetzt musste auch mein Gegenüber grinsen und zuckte die Schultern. "Tut mir Leid, daran muss ich mich erst noch gewöhnen, Rebecca. Aber du hast meine Frage nicht beantwort." Ich seufzte. "Es klappt. Eigentlich ist es genauso wie vorher, nur dass einer weniger am Tisch sitzt. So hart das klingt, aber Papa hat seit unserem Umzug kaum etwas im Haushalt oder mit uns zusammen gemacht, deshalb ist die Umstellung jetzt nicht besonders groß." "Wenn ihr mal Hilfe braucht, dann könnt ihr euch jederzeit an mich wenden, ja? Ich kann den Chauffeur spielen oder kochen oder putzen oder was auch immer." "Vielen Dank Frau Osterloh. Auch dafür, dass Sie sich hier um alles kümmern." "Ich bin seine Sekretärin, das ist mein Job." Ich lächelte schwach. "Trotzdem. Danke." "Kein Problem. Und jetzt sieh zu, dass du rechtzeitig zu Hause bist, um das Abendessen zu kochen." Ich schaute auf die Uhr, die über der Tür hing und stellte fest, dass wir für die Planung der nächsten Wochen erschreckend viel Zeit gebraucht hatten. "Oh ja, Sie haben Recht. Falls irgendetwas mit den Ersatzpredigern nicht klappen sollte, zögern Sie bitte nicht mich anzurufen!" Frau Osterloh nickte und verabschiedete sich von mir, dann verließ ich das Pastorenbüro und lief so schnell wie möglich nach Hause, wo ich mich direkt in die Küche stellte und zu kochen begann. Während ich das Fleisch in der Pfanne im Auge behielt und das Dressing für den Salat machte, half ich Tabea bei ihren Mathehausaufgaben und erlaubte Mark, am Freitag bei Ben zu übernachten, dann aßen wir gemeinsam zu Abend und anschließend stand ich wieder allein in der Küche und machte den Abwasch. Als das erledigt war, wollte ich auf mein Zimmer gehen, wurde aber kurz davor aufgehalten, weil ich ein unterdrücktes Schluchzen hörte. Vorsichtig näherte ich mich Jonnys Zimmer und öffnete seine Tür. Mein Bruder saß auf seinem Bett und war mit dem Rücken zu mir damit beschäftigt, ein Bild von Mama anzuschauen. Sein Anblick brach mir das Herz, weshalb ich den Raum betrat, die Tür wieder hinter mir schloss und mich schweigend neben ihn aufs Bett setzte. Er zuckte zusammen, konnte die Tränen aber nicht davon abhalten, weiter über sein Gesicht zu laufen. "Ich vermisse sie", brachte er irgendwann stockend hervor und ich nickte schwach. "Ich weiß. Ich vermisse sie auch. Aber das ist nicht alles, was dir auf dem Herzen liegt." Ertappt erwiderte Jonny meinen Blick und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. "War es meine Schuld? Papas Stress und sein Zusmamenbruch? Lag es an mir, weil ich zuletzt so scheiße drauf war und so viel Mist gebaut habe?" "Nein, es ist nicht deine Schuld! Wehe du redest dir das ein! Papa wollte sein Bestes für uns und für die neue Gemeinde geben, aber niemand kann 200% leisten. Deshalb ist er so fertig und nicht wegen einzelner Taten. Natürlich hast du ihm von Zeit zu Zeit Sorgen bereitet, aber das haben Timo, Mark, Tabea und ich genauso. Wir tragen alle eine gewisse Schuld, aber nicht die alleinige. Und wir haben es ja nicht absichtlich gemacht. Das Beste, was wir jetzt tun können, ist, die Zeit ohne Papa zu meistern und uns zu überlegen, wie wir ihn zukünftig entlasten können." "Okay, das krieg ich hin." Ich lächelte und wuschelte Jonny kurz durch die Haare. "Sehr gut. Dann lass ich dich jetzt mal wieder alleine. Meine Chemiehausaufgaben warten auf mich." Langsam stand ich auf und lief zur Tür, doch gerade, als ich das Zimmer verlassen wollte, hielt Jonny mich auf. "Becca?" "Ja?" "Danke." Er lächelte und ich erwiderte es sanft, dann schloss ich die Tür hinter mir und ging in mein eigenes Zimmer, wo ich mich mit aller Macht auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren versuchte. Nachdem ich das erledigt hatte, ließ ich die vergangenen Tage rekapitulieren. Heute war Mittwoch, Papa war seit zwei Tagen in einer psychiatrischen Klinik. Und es war genau so, wie ich es Frau Osterloh vorhin gesagt hatte. Eigentlich hatte sich für mich nicht viel geändert. Ich machte den Haushalt und hatte einen Blick auf alles und jeden. Eigentlich war es für mich sogar angenehmer als vorher, weil es eine Person weniger gab, auf die ich achten musste. Ich wusste, dass Papa in der Klinik die Hilfe bekam, die er brauchte und das bescherte mir nachts einen deutlich ruhigeren Schlaf. Obwohl wir in einer Situation waren, die es so noch nie gegeben hatte, hatte sich nichts verändert. Wir blieben alle in unserer Routine. Und so schrecklich das auch war, so sicher fühlte ich mich dadurch. Wo Routine war, geschahen weniger Fehler. Mit diesem Gedanken widmete ich mich meinem Englischbuch.

"Hi, na wie läuft's zu Hause?", erkundigte Lara sich lächelnd, nachdem sie mich zur Begrüßung umarmt hatte. "Es läuft gut. Irgendwie kriegen wir das alles schon hin, hauptsache Papa geht es bald wieder besser." "Na dann. Oh, hey Elias." Als Lara seinen Namen aussprach, begann mein Herz plötzlich schneller zu schlagen und ich musste automatisch lächeln. Mit genau diesem Lächeln drehte ich mich um und entdeckte Elias. "Morgen Lara, morgen Sonnenschein." Noch leicht verschlafen rieb er sich die Schläfe und grinste uns dann müde an. "Zu wenig geschlafen?", erkundigte Lara sich schmunzelnd und Elias zuckte die Schultern, bevor er das Thema wechselte und uns nach den Chemiehausaufgaben fragte. Skeptisch musterte ich ihn von der Seite und zum ersten Mal dachte ich darüber nach, ob es in seinem Leben vielleicht auch Dinge gab, die er nicht aussprach. Wir drei nannten uns Freunde, aber kannten wir uns eigentlich wirklich? Bevor ich dieser Frage in meinen Gedanken weiter nachgehen konnte, wurde ich von Lara daran erinnert, dass wir zur ersten Stunde gehen mussten, damit wir nicht zu spät kamen. Doch während der nächsten Stunden ließ mich der Gedanke nicht los, dass wir alle Geheimnisse hatten und ob das unsere Freundschaft nicht früher oder später auf eine harte Probe stellen würde.

Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt