Neunundzwanzig.

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"Deine... Mitbewohnerin?", hinterfrage ich irritiert, denn sofort habe ich das Bild von gestern wieder im Kopf, als Katie ihre Hand auf seinen Oberschenkel legt und sie sich mit Kosenamen ansprechen. Etwas verunsichert schaut er mich an und nickt langsam. "Und was sollte dann die Show gestern?", frage ich ihn, da ich jetzt wirklich verwirrt bin.

"Meine Mutter denkt, wir wären zusammen... und das muss auch so bleiben", fängt er an, seufzt dann und rauft sich die Haare. "Und warum?" Louis ist doch erwachsen und muss doch selbst entscheiden können, mit wem er zusammen ist. Warum zum Teufel führen die eine Scheinbeziehung? "Vielleicht sollte ich etwas weiter ausholen, dann kannst mich vielleicht verstehen... Vor etwa zehn Jahren hatte ich meinen ersten Kuss. Es war ein damaliger Kumpel und es war bei uns zu Hause in meinem Zimmer. Tja, wie der Zufall es so wollte, ist meine Mutter reingeplatzt. Ich habe sie noch nie so schockiert gesehen...", fängt er an zu erzählen, starrt dabei auf unsere Hände und malt mit seiner freien Hand wilde Muster auf seinen Oberschenkel. Sein Blick ist abwesend und ängstlich, so als würde er die Situation von damals noch einmal durchspielen. Ich halte den Mund, will seine Gedankengänge nicht stören und warte geduldig darauf, dass Louis weiter erzählt.

"Sie hat meinen Kumpel sofort rausgeschmissen und dann ging's los. Ich habe eine Tracht Prügel kassiert und mir wurde immer wieder eingetrichtert, dass man keine Jungs zu küssen hat, sondern nur Mädchen", haucht er. Erschüttert über diese Beichte, gefriert mir das Blut in den Adern. Louis wurde verprügelt - von seiner eigenen Mutter. Ich spüre, wie er um Fassung ringt, er will keine Tränen zulassen. In der Hoffnung er merkt, dass es absolut in Ordnung wäre, drücke ich etwas seine Hand. Wie kann eine Mutter dazu fähig sein, sein Kind zu schlagen? Ich habe das noch nie begriffen und jetzt Louis neben mir zu haben, dem das passiert ist, schockiert mich zutiefst.

Louis gibt sich tapfer, doch zum Ende hin bricht seine Stimme. "Sie... sie hat mich eingesperrt, ich fühlte mich wirklich wie ein Häftling. Ewig lange hatte ich Hausarrest. Sie hat mich zur Schule hingefahren und wieder abgeholt, ansonsten durfte ich mein Zimmer nicht verlassen. Meine Mum war immer die liebevollste und beste Mutter, die ich mir vorstellen konnte, aber bei diesem Thema... war und ist sie ein ganz anderer Mensch. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie entsetzt ich über ihr Verhalten war. Nie hätte ich es für möglich gehalten,dass... dass sie mich schlägt - immer und immer wieder... über Jahre hinweg."

Fuck, ist das heftig. Völlig überfordert mit der Situation weiß ich nicht wirklich, wie ich reagieren soll. Reicht ihm meine Hand? Soll ich ihn in den Arm nehmen? Vorerst verharre ich in meiner Position, streichle lediglich mit meinem Daumen über seinen Handrücken. "Über Jahre hinweg? Louis, warum... warum hast du noch Kontakt zu ihr?", murmle ich leise und krächzend. Zu meiner Überraschung lacht Louis bitter auf und schüttelt mit dem Kopf. "Sie ist immer noch meine Mutter. Ich liebe sie. Außerdem habe ich so die einzige Chance in meinem Leben ein Fitnessstudio leiten zu können", erklärt er mir. Verständnislos blinzele ich und ich kann nicht glauben, was er mir erzählt. Auch kann ich seine Worte davor nicht so recht glauben. Liebevolle Mutter? Das sah beim Sport letztens aber ganz anders aus, als eine Kundin ihren Termin verschieben wollte und dieser gar nicht erst im Kalender eingetragen war. "Was? Warum sollte das deine einzige Chance sein?", frage ich jedoch nur.

"Harry, Sport ist mein Leben. Er bedeutet mir so viel und ein eigenes Fitnessstudio war schon immer mein Traum. Aber weißt du, wie schwer es heutzutage auf dem Markt ist, etwas Neues aufzubauen? An jeder zweiten Ecke gibt es heute ein Studio und neue Läden haben null Chance. Das Studio meiner Mutter existiert seit Jahren, hat sich einen guten Ruf und eine hohe Stammkundschaft aufgebaut. Es läuft perfekt. Das ist das, was ich haben will", erklärt er mir. In seinen Augen erkenne ich, dass es wirklich das ist, was er will. Er brennt quasi für Sport und ich habe das Gefühl, er denkt, er würde nur mit dem Studio seiner Mutter glücklich werden.

"Meine Mutter würde mich zum Geschäftsführer machen wollen...", spricht er leise weiter und schaut mir ganz kurz in die Augen, ehe er wieder auf den Boden sieht. Dort ist jetzt definitiv wieder die Angst zu sehen, die er auch vorhin schon gezeigt hat. Meine Gedanke rasen und mir kommt eine ganz dumme Idee, was hier gespielt werden könnte. "Was ist der Preis dafür?", wispere ich ebenso leise, wage es kaum die Worte auszusprechen. Leider Gottes wird meine Befürchtung allerdings wahr, als Louis schluckt und neue Tränen über seine Wangen rollen.

"Ich darf nur Geschäftsführer werden, wenn ich verheiratet bin... mit einer Frau", flüstert er und löst nun seine Hand aus meiner, hält sich beide Hände vor's Gesicht. Sein Schluchzen geht mir durch Mark und Bein und ich muss mich zusammenreißen, nicht selbst in Tränen auszubrechen, so sehr geht mir das nahe. Nun kann ich mich nicht länger zurückhalten, ich rücke näher und ziehe Louis zögerlich in meine Arme. Bereitwillig lehnt er sich direkt an mich und lässt seinem Kummer freien Lauf. Tröstend streiche ich immer wieder über den Rücken, schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Louis so zu sehen, bricht mir das Herz, aber in diesem Moment will ich stark für ihn sein. 

Keine Ahnung, wie lange wir dort so verharren und uns einfach nur im Arm halten. Erst als Louis' Körper nicht mehr bebt und kein Ton mehr zu hören ist, löst er sich etwas von mir. "Danke", sagt er leise und ich schenke ihm ein kleines Lächeln, denn das ist ja wohl selbstverständlich. Jeder braucht mal eine Schulter zum Anlehnen.

"Darf ich dich etwas fragen?", erkundige ich mich sanft, was Louis auch direkt nickend lässt. "Du bist 24. Warum lässt du dir dein Leben so bestimmen? Du wirst woanders glücklich werden, aber meine Meinung nach nicht im Studio deiner Mutter", teile ich ihm zaghaft meine Meinung mit. Was muss sie nur mit ihm gemacht haben, dass er immer noch so sehr danach lechzt, dieses Studio zu übernehmen? 

"Du verstehst es nicht. Dieses Studio ist alles, was ich will", sagt Louis lediglich und löst sich nun gänzlich. Dass er mir mit dieser Aussage ein imaginäres Messer in die Brust rammt, scheint ihn nicht zu interessieren. "Du... willst Katie also wirklich heiraten?", traue ich mich zu fragen, allerdings unsicher, ob ich die Antwort wirklich hören will. Warum spielt Katie da überhaupt mit? Und selbst wenn... was ist danach? Will er ewig so tun, als wären sie ein Ehepaar? Er würde geradewegs in sein Unglück rennen.

"Ja natürlich, sonst verwehrt meine Mutter mir die Geschäftsführung. Außerdem habe ich keine andere Wahl", er klingt plötzlich wieder selbstbewusster und distanzierter. Auch wenn ich froh bin, dass Louis' Tränen nachgelassen haben, gefällt mir dieser Stimmungswechsel gerade gar nicht. Dennoch glaube ich nicht, dass es richtig wäre dabei zuzuschauen, wie er sich ins Verderben stürzt. Erneut schnappe ich mir seine Hand, halte sie mit meinen beiden fest und suche schluckend den Blickkontakt. Ich habe noch immer keine richtige Gewissheit, wie seine Gefühle für mich stehen, dennoch kratze ich sämtlichen Mut in mir zusammen, gehe ein Risiko ein, um Folgendes zu sagen: "Lou... du machst dich unglücklich, siehst du das denn nicht? Und eine Mutter sollte ihr Kind ohne Bedingungen lieben, keine Voraussetzungen stellen. Man hat immer eine Wahl. Lass mich... lass mich deine Wahl sein. Du kennst meine Gefühle für dich... und ich kenne deine Gefühle für mich."

Louis schaut mich überrascht an, ich sehe ihn schlucken und halte vor Nervosität die Luft an. Da er aber nichts sagt, hebe ich eine Hand und streiche damit über seine Wange. Es gibt mir Hoffnung, dass er die Augen schließt und sich an meine Handinnenfläche schmiegt. Erneut kullert eine Träne seine Wange hinunter, die ich schnell mit meinem Daumen wegwische.

Verdammt, wie kann ich ihn nur umstimmen? Wie kann ich ihm die Augen öffnen?


Escape and follow - [Larry-AU]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt