Vor der Ernte

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Als meine Mutter mich morgens leicht  schüttelt, um mich zu wecken, drehe ich mich unwillig weg. Ich bin so  müde, außerdem hasse ich es, früh aufzustehen und seit ich nicht mehr in  die Schule gehen kann, interessiert es auch niemanden mehr, wann ich  aufstehe. Hauptsache ich bin rechtzeitig wach, um das Mittagessen zu  kochen.

Das stimmt nicht ganz, an einem Tag im Jahr muss ich  immer noch früh aufstehen. Nur an einem einzigen Tag; dem Tag der Ernte.  Als mir das in den Sinn kommt, bin ich sofort hellwach, ich setze mich  so schnell auf, dass meine Mutter erschrocken zurück zuckt.

Eigentlich  ist die Ernte nichts Neues für mich. Ich bin immerhin schon 16 und habe  schon ganze vier Ernten, die ich unbehelligt überstanden habe, hinter  mir. Doch dieses Jahr ist es anders. Damals, als ich 12 war und zu  meiner ersten Ernte musste, hatte ich furchtbare Angst. Ich konnte die  ganze Nacht nicht schlafen. Meine Schwester Lea hat mich die ganze Nacht  im Arm gehalten und mir über das lange, rotbraune Haar gestrichen.  Damals hatte sie mir versprochen, sich freiwillig zu melden, sollte ich  gezogen werden. Dieses Versprechen hat sie seit dem jedes Jahr  wiederholt, bis jetzt.

Letzte Woche haben wir Leas 19.  Geburtstag gefeiert. Ich weiß nicht, wie es in den anderen Distrikten  ist, aber in Distrikt 8 ist der 19. Geburtstag  ein sehr wichtiger Tag.  Mit ihm ist man endgültig von der Gefahr erlöst, für die alljährlichen  Hungerspiele ausgelost zu werden. An Leas Geburtstag habe ich das zweite  Mal in meinem Leben Kuchen gegessen. Das erste Mal war nach der Ernte  in meinem ersten Jahr, als es das erste Mal Lea oder mich hätte treffen  können. Ich habe mir ein Kuchenstück aufbewahrt von der Feier letzte  Woche, für heute Abend, wenn die Ernte vorbei ist und ich wieder ein  Jahr verschont bleibe.

Letzte Woche hatte ich keine Angst, doch  mittlerweile bin ich mehr als nur etwas nervös. Was ist, wenn ich  ausgerechnet dieses Jahr gezogen werde? Jetzt, wenn Lea sich nicht mehr  freiwillig melden kann? Sie hätte garantiert bessere Chancen als ich.  Ich denke, dass sie sogar gewinnen könnte. Immerhin hat unser Vater sie  viele Jahre mit in den Wald genommen. Eigentlich ist es verboten, den  Distrikt zu verlassen, aber das Geld hat noch nie gereicht und deshalb  schleichen mein Vater und Lea sich samstags und sonntags in den Wald, um  Beeren und Nüsse zu sammeln und Tierfallen aufzubauen. Meine Mutter und  ich verkaufen die Früchte und Tiere auf dem Schwarzmarkt.

Lea  könnte es schaffen, aber was ist mit mir? Ich bin seit über drei Jahren  gehörlos. Mein Vater hat mir einmal versprochen, mich auch mit in den  Wald zu nehmen, wenn ich alt genug wäre, das war vor dem Unfall. Es ist  nie dazu gekommen.

Meine Mutter fuchtelt vor meinen Augen mit  ihren Händen herum, um mich aus meinen Gedanken zu holen, und zeigt dann  in Richtung der kleinen Waschkammer. Ich nicke stumm und trotte  hinüber. Auf dem Boden steht eine große Wanne und daneben ein kleinerer  Eimer, der mit Wasser gefüllt ist. Ich ziehe mich aus und steige langsam  in die Wanne. Dann greife ich mit beiden Händen nach dem Eimer, der  sich angenehm warm anfühlt. Natürlich, heute ist der Tag der Ernte, der  einzige Tag im Jahr, an dem wir warmes Wasser haben.

Einen  Moment bleibe ich in der Hocke, die Hände an dem Eimer, der die Wärme  des Wassers auf meine Hände überträgt, aber ich habe keine Zeit. Also  hebe ich den Eimer über meinen Kopf und lasse das warme Wasser über  meinen ausgemergelten Körper fließen. Ich beobachte, wie ein Teil des  Schmutzes, der nie ganz verschwindet, mit dem Wasser in die Wanne  fließt.

Anschließend trockne ich mich ab und ziehe mir das  Erntekleid an. Es ist dunkelrot und geht mir bis knapp unter die Knie.  Es hat keine Ärmel und ist mir viel zu weit, so dass es unförmig an  meinem Körper herabhängt. Ein anderes Kleid können wir uns nicht  leisten.

Nachdem ich mir ein paar Mal mit den Fingern durch die  noch feuchten Haare gestrichen habe, verlasse ich die Waschkammer und  gehe zum Esstisch. Dort sitzen sie alle -  meine Mutter, meine Schwester  und mein Vater - und alle sehen sie besorgt aus.

Wie geht es dir, Kind?,  fragt mein Vater. Er gebraucht die Gebärdensprache. Als ich vor  dreieinhalb Jahren mein Gehör verloren habe, haben wir sie von einem  alten Mann, der ganz in der Nähe wohnt, gelernt. Er ist auch gehörlos  und es heißt, dass es bei ihm auch ein Arbeitsunfall gewesen sei, aber  sicher bin ich mir nicht, es muss schon sehr lange her sein. Es war  anfangs sehr schwer und oft haben meine Eltern oder meine Schwester auf  Zettel geschrieben, wenn sie etwas von mir wollten. Mittlerweile  beherrschen mein Vater und ich die Gebärdensprache fast einwandfrei,  aber meine Mutter hat immer noch Probleme damit und so ist es meist mein  Vater, der mit mir kommuniziert.

Ich antworte ihm nicht,  schüttele nur den Kopf und spüre, wie mir die Tränen in die Augen  steigen. Ärgerlich wische ich sie mir weg. Warum denken eigentlich alle,  mich eingeschlossen, dass es mich dieses Jahr treffen wird, nur weil  meine Schwester nicht mehr ausgelost werden kann? Mein Name ist doch nur  fünfmal in der Lostrommel. Nein, falsch. Neunmal. Da ich dieses Jahr  das erste Mal Tesserasteine beantragen musste. Bisher hat meine  Schwester das immer für mich getan, aber da sie nun 19 ist, muss sie  nicht nur nicht mehr an der Ernte teilnehmen, sondern darf auch keine  Tesserasteine mehr beantragen. Meine Familie braucht aber die kleinen  Getreide- und Ölrationen zum Überleben.

Heute Morgen habe ich  keinen Hunger. Ich habe ja noch den Kuchen, für heute Abend, denke ich  mir und wenn ich jetzt nichts esse, schmeckt er mir später vielleicht  viel besser.

Die Zeit bis zur Ernte ist viel zu schnell vorbei.  Meine Mutter flechtet mir noch zwei Zöpfe, die sie mit farblich zum  Kleid passenden Gummis zusammenbindet, dann ertönt auch schon der Gong,  der uns aufruft, zum Hauptplatz, auf dem die Ernte stattfindet,  aufzubrechen.

Der Gong ertönt genau dreimal. Beim ersten Mal  müssen sich Leute wie meine Familie, die sehr arm sind und deshalb am  äußersten Rand des Distriktes leben, auf den Weg machen. Der nächste  Gong ist bestimmt für diejenigen, die zwar nicht reich sind, aber auch  nicht ganz so arm wie wir und die deshalb näher am Stadtzentrum wohnen.  Zuletzt werden die Kaufmannsfamilien aufgerufen, sich auf dem Platz  einzufinden. Familien, die nicht illegal im Wald Beeren sammeln müssen  oder Tesserasteine beantragen müssen, solche, die so gut wie immer genug  zu Essen haben und nie um das täglich Brot fürchten müssen.

Da  meine Familie aber zu den Ärmsten der Armen gehört, machen wir uns nach  dem ersten Gong auf den Weg. Schweigend laufen wir gemeinsam Richtung  Stadtzentrum. Mag sein, dass mein Vater oder meine Mutter oder meine  Schwester während des Weges etwas sagt, ich starre stur gerade aus und  kann so auch nicht sehen, ob vielleicht einer der drei seinen Mund  geöffnet hat. Aber es ist egal, ich würde es sowieso nicht verstehen.

Kurz  bevor wir den Hauptplatz erreichen, entdecke ich meine beste und  mittlerweile einzige Freundin Lacey. Sie wohnt mit ihrer Familie nicht  weit von uns und wir sind früher zusammen zur Schule gegangen. Sie ist  die einzige meiner ehemaligen Freundinnen, die damit klar kommt ist,  dass ich plötzlich nicht mehr hören konnte. Sie hat sogar die  Gebärdensprache gelernt. Sie meinte, dass sie keine Lust habe, immer  alles aufzuschreiben und sie habe auch nicht immer und überall einen  Stift bei sich.

Ich umarme nacheinander meine Mutter, meinen  Vater und meine Schwester. Meine Schwester sieht zu Boden, doch mein  Vater drückt mir die Daumen, eine Geste, die jeder, ob taub oder nicht  verstehen kann. Er fügt noch hinzu: Alles wird gut! Wir sehen uns nach der Ernte! Ich nicke dankbar und gehe dann hinüber zu meiner Freundin, um mich gemeinsam mit ihr für die Ernte registrieren zu lassen.

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Ich  habe mir überlegt, dass ich alles, was in der Gebärdensprache "gesagt"  wird durch eine kursive Schrift kenntlich machen werde, zum besseren  Verständnis.

Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen.

Dieses Kapitel ist für meine stief Cousine, obwohl sie noch lange nicht alt genug sein wird, es zu lesen.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt