An meinem Zimmer angelangt, halte ich kurz inne. Ob ich Durian gleich wieder sehen werde? Ich bin zwar etwas früher vom Training zurück als gewöhnlich, aber die letzten Abende war er bereits in meinen Zimmer, wenn ich gekommen bin. Wir hätten mehr Zeit für uns.Ich berühre mit den Fingerspitzen meine Lippen und meine, den Kuss von gestern Abend immer noch zu spüren, wenngleich mir mein Verstand sagt, dass das nicht sein kann. Ob Durian genauso fühlt? Sehnt er sich ebenfalls den ganzen Tag danach, mich zu treffen? Oder bin ich so verliebt in ihn, dass ich nicht mehr die Wahrheit sehe? Ich kenne ihn gar nicht. Erst dreimal habe ich mit ihm gesprochen. Woher soll ich wissen, was er wirklich fühlt? Andererseits, trotz der Tatsache, dass ich erst dreimal mit ihm gesprochen habe, kenne ich seine Geschichte. Niemand von denjenigen, die ich hier im Kapitol bereits getroffen habe, hat mir von seiner Vergangenheit erzählt. Nicht einmal von Ava weiß ich sonderlich viel mehr, als dass sie Distrikt 7 ihre Heimat nennt, 13 Jahre alt ist und die allerbeste Kletterin ist, der ich je begegnet bin. Sie ist meine Verbündete – Durian ist...
Ein Freund? Ein Leidensgenosse? Mein Geliebter? Ich weiß es nicht. Ich weiß, was er nicht ist. Mein Bediensteter. Auch wenn das Kapitol gerne hätte, dass dies unsere einzige Verbindung wäre. Ich der weibliche Tribut aus Distrikt 8, er derjenige, der mein Zimmer alltäglich einer klinischen Reinigung unterzieht. Das Kapitol! Was ist, wenn sie es herausgefunden haben? Was ist, wenn sie in Erfahrung gebracht haben, dass Durian nicht jeden Tag mein Zimmer betritt, um es lediglich zu säubern, wie es seine Aufgabe ist, sondern dass da mehr ist.
Ich öffne die Tür und trete in mein Quartier. Das Zimmer ist leer. Ich spüre, wie ich augenblicklich unruhig werde. Durian! Wo ist er?
Ich stolpere beinahe über meine eigenen Füße, als ich hinüber ins Bad haste. Doch auch dort empfängt mich eine unangenehme Leere. Zurück im Zimmer bemerke ich, dass mein Bett, welches ich heute Morgen zusammengeknüllt verlassen habe, feinsäuberlich aufgeschlagen ist. Ich gehe erneut in das Bad. Das mintgrüne Kleid, welches ich am Boden zurück gelassen habe, ist verschwunden. Auf einem Hocker liegen frische Handtücher sowie ein giftgrünes Nachthemd mit rosafarbenen Rüschen.
Eines steht fest. Durian ist nicht abwesend, weil er bereits fertig mit der Reinigung wäre oder weil er erst später käme. Durian ist nicht hier, weil er heute nicht mit dem Säubern meines Bereiches beauftragt wurde. Warum?
Haben sie etwas herausgefunden? Haben sie bemerkt, dass er sich gestern viel länger in meinem Zimmer aufgehalten hat, als es nötig wäre, um lediglich zu putzen? Wissen sie sogar von dem Kuss? Wenn ja, was machen sie mit ihm? Was haben sie mit ihm vor? Sie werden doch nicht ...?
Nein, das will ich nicht glauben. Außerdem brauchen sie ihre Sklaven, um uns Tributen zu zeigen, wie wichtig wir dem Kapitol seien. Wir sind ihnen nicht wichtig. Wir sind austauschbar. Ist das nicht allein daran ersichtlich, dass jedes Jahr 23 andere Jugendliche in der Arena dem Tode geweiht sind?
Das Kapitol braucht die Avoxe. Sicher, dass sie Durian erwischt haben, kann ich ohnehin nicht sein. Es ist sicherlich nichts Ungewöhnliches daran, dass man ihn einem anderen Raum zugeordnet hat. Morgen werde ich ihn wieder sehen. Morgen muss ich ihn wieder sehen! Denn übermorgen schon muss ich in die Arena. Übermorgen schon könnte mein Leben vorbei sein. Übermorgen schon könnte mein Gesicht am Nachthimmel in der Arena erscheinen. Übermorgen schon...Übermorgen ist nicht heute! Ich darf nicht daran denken. Es ist schlimm genug, dass ich in der Arena um mein Leben kämpfen müssen werde. Es hilft nichts, bereits heute darüber nachzudenken, was wäre, wenn...es schief geht.
Um mich abzulenken, trotte ich ins Bad und hole das rüschenbesetzte Nachthemd. Es sieht furchtbar aus. Wie können die Leute im Kapitol so etwas tragen, ohne sich zu schämen? Und wie kann der Avox, wer auch immer es ist, glauben, dass ich, nur weil ich aus Distrikt 8 stamme und ein Mädchen bin, so etwas gerne tragen würde? Aber vielleicht glaubt er es auch nicht und ist lediglich zu verschüchtert, um sich den Vorstellungen des Kapitols zu widersetzten. Vermutlich letzteres.
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Die 101. Hungerspiele★
FanfictionCorina Henson ist 16 Jahre alt und kommt aus Distrikt 8. Vor knapp 3 1/2 Jahren verlor sie bei einem Arbeitsunfall ihr Gehör. Als sie für die diesjährigen Hungerspielen ausgelost wird, scheint alles verloren. Doch dann beschließt Corina zu kämpfen...